Sagenhafte Treue
Der Drachen feiert heuer seinen 90. Geburtstag. Bei Olympia wird er nicht mehr gesegelt, eine weit verstreute Anhängerschaft ist aber nach wie vor von seinen Qualitäten überzeugt
Es war einmal ein norwegischer Bootsbauer namens Johan Anker. Er nahm an einem Konstruktionswettbewerb teil, ausgeschrieben 1928 vom Königlichen Göteborger Yachtclub; gesucht war ein kostengünstiges Einheitsboot für die Jugend, das sich in Serie bauen lassen sollte. Sein Entwurf „Draggen“ (= norwegisch für Anker) gewann, wurde, so erzählt es die Legende, vom Weltsegelverband irrtümlich in Dragon umbenannt und entwickelte sich unter dieser Bezeichnung zu einem der erfolgreichsten Kielboote der Welt.
Nach dem Stapellauf der ersten drei Boote im Jahr 1929 wuchs in Skandinavien, Großbritannien und Deutschland rasch eine starke Flotte heran, 1946 erhielt der Drachen Olympiastatus und kam 1948 bei den Spielen in London erstmals zum Einsatz. Zeitgleich erarbeitete er sich einen Ruf als Klasse der Könige: Gekrönte Häupter aus ganz Europa steuerten ihn über den Regattaparcours, der griechische Kronprinz Konstantin II gewann gar 1960 bei den Olympischen Spielen vor Neapel die Goldmedaille. Dann ein herber Rückschlag: Der Drache wurde aus der olympischen Riege genommen und 1972 in Kiel zum letzten Mal unter den sieben Ringen gesegelt. Das wäre wohl sein Untergang, prophezeiten die Experten – und lagen damit gründlich daneben. Es folgte eine Phase der vorsichtigen Erneuerung und Weiterentwicklung, in der Bauvorschriften angepasst sowie Alu-Rigg und GfK-Rumpf zugelassen wurden. Das Seglervolk wusste das zu schätzen und hielt ihm die Treue. Heute sind rund 1.700 Drachen in 30 Ländern offiziell registriert, die tatsächliche Zahl der segelnden Exemplare dürfte doppelt so hoch sein.
Bleitransporter wird der Drachen manchmal abschätzig von jenen genannt, die das Heil des Segelsports in Hydrofoils, Karbon und dynamischer Hektik suchen. Mag sein. Aber in welcher anderen Klasse wird seit 90 Jahren sowohl international als auch national auf hohem Niveau und mit respektablen Feldern gesegelt? Bei Großereignissen wie Welt- und Europameisterschafen oder dem legendären Gold Cup finden sich immer noch bis zu 80 Teilnehmer ein, die österreichische Staatsmeisterschaft lockt regelmäßig um die 40 Mannschaften aus dem In- und Ausland an den Attersee. Die heimische Bestenliste weist mehr als hundert Seglerinnen und Segler aus, womit der Drachen zu den aktivsten Klassen des Landes zählt, aber auch freizeitorientierte Sonntagssegler finden unverbrüchlich ihre Freude. Anders gesagt: Der Drachen ist ein Phänomen. Und das hat gute Gründe.
Er ist schön
Der Drachen entspricht perfekt der klassischen Formensprache der Yachtbaus der 1920er und 30er Jahre, die Ästhetik seiner Linien ist zeitlos und unmittelbar zu spüren.
Er ist simpel
Der Blick ins Cockpit eines Regattaboots mit all den bunten Leinen und Klemmen täuscht. Im Genussbetrieb ist der Drachen ein gutmütiges und einfach zu handhabendes Segelfahrzeug. Dank 1,7 Tonnen Gewicht und Langkiel lässt er sich weder von wechselnder Wind- und Wellendynamik noch von einem unkonzentrierten Steuermann aus seiner majestätischen Ruhe bringen.
Er ist anspruchsvoll
Wer den Drachen im Wettkampf kompetitiv bewegen möchte, benötigt hingegen ein ausgeprägtes Gefühl für Geschwindigkeit, muss Segel wie Rigg aktiv trimmen können und die Zuständigkeiten an Bord optimal aufteilen.