Geistreiches Vergnügen
Die Sea Cloud Spirit ist seit letztem Herbst das Flaggschiff der gleichnamigen Reederei. Judith Duller-Mayrhofer ging an Bord und ließ sich bei einem Kanaren-Törn von den speziellen Qualitäten des Dreimasters überzeugen
Mit einem Glas Champagner stehen wir im letzten Abendlicht an Deck und stoßen auf den Beginn dieser Reise an. Vor uns liegt eine Etappe von rund 120 Seemeilen, die uns nach Fuerteventura bringen soll, hinter uns lassen wir nicht nur den riesigen Puerto de la Luz, Fischumschlagplatz, Reparatur- und Handelshafen auf Las Palmas, Gran Canaria, sondern auch alle Mühen des Alltags. Die 138 Meter lange Sea Cloud Spirit, die luxuriöse Großzügigkeit mit traditioneller Seemannschaft verbindet, ist eine Welt für sich und wie geschaffen für eine stilvolle Auszeit auf dem Wasser. Maximal 136 Passagiere gehen gleichzeitig auf Fahrt, 85 Besatzungsmitglieder sorgen für einen reibungslosen Ablauf auf allen Ebenen. Die größte Gruppe stellt mit rund 50 Personen die Hotel Abteilung, die vom Österreicher René Kronsteiner geleitet wird. Als die Sea Cloud Spirit in Dienst gestellt wurde, war er ebenso Teil des Teams wie bei ihrer Jungfernfahrt im September 2021; jetzt überblickt er aus dem Hintergrund mit wachsamem Auge das Geschehen und achtet darauf, dass den Gästen regelmäßig nachgeschenkt wird. Um Punkt halb acht läutet die Schiffsglocke – Zeit, sich auf das eine Etage tiefer liegende Promenadendeck zu begeben, wo uns im Restaurant mit Panoramablick ein mehrgängiges Abendessen serviert wird. Der Tag war lang und die Anreise anstrengend – beinahe hätten wir unseren Anschlussflug in Madrid verpasst –, daher verziehen wir uns bald in unsere Betten. 69 Kabinen gibt es auf der Sea Cloud Spirit, alle sind nach außen gewandt und haben natürliches Licht. Unsere gehört zu jenen 25, die zudem einen Balkon bieten können. Bei offener Türe lauschen wir dem Fahrtgeräusch, das uns wie Brandung in den Ohren klingt, atmen beglückt die salzige Luft und lassen uns in den Schlaf schaukeln.
Schnell wie der Wind
Drei rahgetakelte Masten, der größte fast 58 Meter lang, dazu 28 Segel mit einer Fläche von insgesamt 4.100 Quadratmetern – dieses Schiff ist gebaut, um mit dem Wind übers Wasser zu fliegen, und auch bei sechs Beaufort noch gut segelbar, versichert uns Kapitän Gerald Schöber, der die Fertigstellung der Sea Cloud Spirit in der letzten Bauphase begleitet hat und sie besser als jeder andere kennt. Kreuzen kann sie natürlich nicht, der maximale Winkel zum Scheinbaren Wind beträgt 70 Grad, die Höchstgeschwindigkeit bei idealen Bedingungen rund zwölf Knoten. Bei Flaute oder ungünstiger Windrichtung kommt ein effizienter, abgasarmer diesel-elektrischer Antrieb mit einer Gesamtleistung von 3.400 kW zum Einsatz. Obwohl heute nur eine leichte Brise weht, verzichtet Kapitän Schöber auf den Einsatz dieser Motoren. Der 56-jährige Flensburger vertraut stattdessen auf die Kraft der Natur und lässt Segel setzen. Wie viele und welche – genau das ist die Kunst. Es gilt jene Kombination zu finden, bei der das Schiff ausbalanciert am Ruder liegt; wie bei jeder anderen Yacht auch. Nur dass es sehr viel mehr Möglichkeiten gibt, etwas falsch zu machen …
Das Prozedere ist komplex und so entfaltet sich vor unseren Augen ein lebendiges Schauspiel. Stagsegel und Klüver lassen sich rollen, der Rest wird wie vor hundert Jahren per Hand gesetzt und geborgen. 18 Personen sind für die Decksarbeit zuständig, jeweils sechs pro Mast, ein Drittel davon ist sehr erfahren, ein weiteres Drittel steht erst am Anfang der nautischen Ausbildung. Frauen und Männer aller Altersgruppen und von unterschiedlicher Nationalität arbeiten konzentriert zusammen, ziehen an den Leinen, rufen einander Anweisungen zu, klettern flink über die seitlichen Strickleitern nach oben zu den Rahen, klarieren dies, kontrollieren das. Wer ins Rigg muss, ist immer gesichert, mit routinierten Handbewegungen picken sich die Crewmitglieder mit schweren, doppelten Karabinern ein und aus; in dieser Hinsicht geht es zum Glück nicht mehr wie vor hundert Jahren zu.
Wir beobachten das bunte Treiben vom Sonnendeck aus, kuscheln uns in eine der gemütlichen, überdachten Doppelliegen, über den Beinen eine flauschige Decke, in der Hand eine Tasse mit heißem Tee, und freuen uns auf einen Tag auf See.
Bizarre Natur, pittoreske Kunst
Fuerteventura ist die älteste Insel der Kanaren, entstanden vor mehr als 20 Millionen Jahren und wie der gesamte Archipel vulkanischen Ursprungs. Die Landmasse wurde von Wind und Wetter stark erodiert und präsentiert sich dem Besucher in beispielloser Nacktheit. Gestern Abend haben wir an der Ostküste im Hafen von Puerto del Rosario festgemacht, heute früh einen öffentlichen Bus bestiegen; zu Mittag müssen wir wieder zurück an Bord sein. Wie jeden Tag könnten wir auch an einem (kostenpflichtigen) organisierten Ausflug teilnehmen, doch wir bevorzugen es, individuell unterwegs zu sein. So rumpeln wir Richtung Norden, drücken unsere Nasen an der Scheibe platt und können uns nicht festlegen: Ist diese karge, flache Landschaft, die zu unserer Linken vorbeizieht, abstoßend hässlich oder atemberaubend schön? Schwarzes Geröll und zerklüfteter rötlicher Fels wechseln mit wüstenartige Zonen ab, kaum eine Pflanze kann sich zwischen den Trümmerhaufen in den trockenen Untergrund krallen; fast wähnen wir uns auf einem fremden, lebensfeindlichen Planeten. Jung und bunt ist die Atmosphäre hingegen in dem Städtchen Corralejo, einem Hotspot für Kite-, Wind- und Wellensurfer, wo wir aussteigen, einen Café Cortado trinken und uns bei einem Spaziergang über den langen Strand die Füße vertreten.