„Und plötzlich zerbröseln alle Sorgen“
In ihrem neuen Buch "So wild wie das Meer" erzählen die Seenomaden von ihrer dritten großen Reise. Die folgenden Leseproben geben darauf einen Vorgeschmack
Jimmy Gentil
Aus Teil V „Südwärts“
Wir lernen Jimmy mitten in der Nacht kennen. Es ist eine jener finsteren, windigen Nächte, die man so schnell nicht vergisst. Vor Anker im Vorhafen von Oriental erwarten wir den Durchzug einer angekündigten Kaltfront. Plötzlich Kettengerassel und ein Ruck, der Nomad erzittern lässt. Wir stürzen ins Cockpit und erkennen schemenhaft, dass wenige Meter vor unserem Bug eine Segelyacht in unserer Ankerkette hängt. Geschockt starre ich in die Dunkelheit und brülle: "Der reißt unseren Anker raus!" Mir sitzt die Angst im Nacken: Wir könnten an der zu nahen Uferböschung stranden. Wolf bleibt cool, seine Kommandos kommen klar und laut: "Sofort den Motor starten und Fender an Backbord ausbringen!" An Deck der fremden Yacht kniet eine Gestalt und stammelt immer wieder: „I am so sorry!“ Nach den ersten Schrecksekunden handeln wir endlich. Der Unbekannte gibt Vollgas retour, Wolf springt ins Dingi, bringt unseren Zweitanker für die andere Yacht aus und hilft, das „Geisterschiff“ von Nomad frei zu bekommen.
Jimmy stammt aus Südfrankreich und ist am Meer aufgewachsen. Ein Leben am Meer hat immer auch mit Sehnsucht zu tun. Vor fünf Jahren immigrierte Jimmy in die USA wegen der ganz großen Liebe. Inzwischen ist die Ehe zerbrochen, die Schulden aber sind geblieben. Jimmys Segelträume auch. Erst unlängst erstand der fesche Franzose mit dem charmanten Akzent über Ebay eine 35 Fuß Yawl vom Typ Pearson Alberg. Baujahr: irgendwann in den Sechzigerjahren. Den Kaufpreis von 10.000,– US$ stottert er dem Voreigner in monatlichen Raten ab. Jimmy hat vom Segeln kaum Ahnung, will aber auf eigene Faust von New York bis New Orleans kommen. Sein Boot macht einen jämmerlichen Eindruck. Das Rigg hängt lose durch, die Genua ist verkehrt rum aufgerollt und hat nur eine Schot, eine Ruderducht wird als Vorstagbolzen verwendet. Lange rätseln wir, was es mit dem mysteriösen Paddel, das an den Heckkorb geschnürt ist, auf sich hat. „Aufs Paddel habe ich meinen neuen Echolot-Geber montiert!“, erklärt Jimmy. Wenn er lächelt, lächeln seine Augen leise mit. Am Bug liegt die Ursache des nächtlichen Desasters: ein fünf Kilo leichter Mini-Anker. Den großen Hauptanker habe er bereits am zweiten Tag seiner Odyssee in Sandy Hook verloren, erzählt Jimmy verlegen. So wollen, nein so können wir ihn einfach nicht weitersegeln lassen und treiben einen 20 Kilo schweren Bruce-Anker im Second-Hand-Marine-Laden auf.
Mit lediglich 700 Dollar in der Tasche hat es Jimmy eilig nach New Orleans zurückzukommen, wo er lebt. Nach 25 Jahren brotloser Kunst als Jazz-Musiker will er sein Glück in Zukunft mit Bootsservice, Spezialgebiet Yachtelektronik, versuchen. Sein dunkelgrünes GfK-Boot trägt noch keinen Namen, aber Jimmy möchte es John T taufen, weil John T ein bisschen wie „gentil“ klingt, was auf Französisch nett, freundlich, liebenswürdig bedeutet. Attribute, die auf Jimmy zutreffen. Er zählt zu den Typen, denen man nicht böse sein kann – nicht einmal, wenn sie nachts in deiner Ankerkette hängen.
Am nächsten Morgen zieht Jimmy weiter. Wir fragen, ob er den Wetterbericht gehört habe. „Wenn man den zu oft hört“, meint er „fährt man nie los. I am a gipsy!“ Erst beim dritten Versuch startet sein Motor röchelnd. Wir lösen seine Leinen und winken ihm lange nach. Tags darauf höre ich auf UKW eine Durchsage der Coast Guard, dass eine entmastete Yacht vor der Küste treibt. Bis heute hoffe ich, dass es sich dabei nicht um John T gehandelt hat. Wir haben niemals mehr von Jimmy gehört. Geblieben sind ein Foto mit verschmitztem Lächeln und der Wunsch, dass ihn das Glück nicht verlassen hat.
Flüssiges Türkis
Aus Teil VI „Bahamas und Kuba“
Das Abenteuer Bahamas beginnt mit "the crossing". Lächerliche 60 Seemeilen über die Straits of Florida, durch die der Golfstrom wie ein reißender Fluss mit drei Knoten nach Norden sprudelt. Alle, wirklich alle warnen uns vor steilen Wellenungetümen, die sich bei Wind gegen Strom aufbauen. Die Faustregel lautet: Losfahren nur bei südlichen Winden unter zwölf Knoten, am besten aber bei Flaute. Respektvoll warten wir zehn Tage lang, dann reißt uns der Geduldsfaden.