360°
Der Deutsche Edzard Kramer lässt gebrauchte Segel in Handarbeit zu funktionellen Taschen verarbeiten, war ein Vorreiter in Sachen Nachhaltigkeit und trifft mit seinen Unikaten punktgenau den Zeitgeist
Eine Garage in Ostfriesland, haufenweise ausgediente Segel und Omas alte Nähmaschine mit Pedalantrieb. Manchmal braucht es nicht viel, um eine Erfolgsstory ins Rollen zu bringen. Anfang der Neunziger begann der aus einer Seglerfamilie stammende Edzard Kramer damit, aus gebrauchtem Segeltuch Packtaschen für Surfboards, später auch Jacken zu nähen. Er verkaufte sie im Freundeskreis und sicherte sich so ein nettes Körberlgeld. Bald wurde die Nachfrage so groß, dass er die Produktion in eine kleine, in der Nachbarschaft gelegene Näherei auslagerte und aus dem Körberlgeld wurde ein ordentlicher Nebenverdienst. Das ganze Potenzial seiner Idee nutzte Kramer aber erst nach Abschluss einer Lehre als Werkzeugmacher sowie eines Studiums für Bekleidungstechnik: Er entwickelte die Marke 360°, die heute primär für Taschen aller Art steht, und vertrieb seine Produkte über den gehobenen Designhandel sowie internationale Kataloge. Die Taschen, die bald Kultstatus erlangten und sogar Besitzer in Tokio oder Katmandu fanden, sind in unterschiedlichen Größen, Formen und Designs erhältlich, und bestehen zum größten Teil aus recyceltem Segeltuch; auf einem eingenähten Herkunftsnachweis lässt sich nachlesen, auf welcher Art Schiff das jeweilige Segel gesetzt und auf welchen Meeren es unterwegs gewesen war. Rund zehn Tonnen sind es, die jährlich für 360° verarbeitet werden, das Material kommt aus Deutschland, Frankreich, Holland, England und Kroatien, als Lieferanten fungieren vor allem Segelmachereien, aber auch Yachtbesitzer. Die Beschaffung ist nicht einfach, denn es gilt gewisse Qualitätskriterien zu erfüllen; wer sein altes Segel einer neuen Bestimmung zuführen möchte, kann übrigens per Webseite ganz einfach Kontakt aufnehmen und es an 360° verkaufen. Ergänzend zum Einsatz kommt bei bestimmten Modellen der besonders robuste Persenningstoff sowie Leder für Riemen und Klappen. Auch bei diesem Werkstoff setzte Edzard Kramer auf Individualität und fand einen Partner, der das Leder in Handarbeit und umweltverträglich gerbt.
Die Näherei, in der die Taschen in Handarbeit und Just-in-Time-Produktion gefertigt werden, befindet sich in Polen und wird von einem Mutter-Tochter-Duo geführt, in Hamburg sorgen vier feste und einige freie Mitarbeiter dafür, dass der Laden läuft.
Auf der Überholspur
Und das tut er nicht nur reibungslos, sondern auch auf Hochtouren. Der Umsatz steigt pro Jahr um 20 Prozent, in Deutschland bieten über 200 Geschäfte die 360°-Modelle an und auch in Österreich und der Schweiz kann man die Unikate im Einzelhandel erwerben. 2018 wurden rund 12.000 Stück verkauft – Tendenz weiter steigend.
Das kommt nicht von ungefähr. Die 360°-Produkte treffen den Zeitgeist besser denn je. Das belastbare, reißfeste, waschbare und wasserabweisende Segeltuch garantiert maximale Funktionalität und Langlebigkeit, das Design, um das sich der Visionär Kramer immer noch höchstpersönlich kümmert, ist modern, aber nicht modisch, schlicht, aber nicht langweilig, das Innenleben intelligent. Lieblingsstücke, die jahrelang getragen werden, liegen im Trend, Wegwerfmentalität wird vor allem von den Jüngeren geächtet.