Im Reich des Klabautermanns
Kolumne Jürgen Preusser: Wenn einer eine Reise tut ...
40,6 Grad in Neusiedl am See? Standesgemäß wurde das Seemannsgarn des Jahres dort gesponnen, wo der Segelverband zu Hause ist, sozusagen im Zentrum der österreichischen Seefahrt.*
 Indes purzelten auch im hohen Norden die Hitzerekorde. Ich kann bezeugen: Es ist wahr, dass die Ostsee durchaus über 20 Grad haben kann, selbst vor dem Strandbadeort Kühlungsborn unweit von Rostock. Der hat nämlich nichts mit niedrigen Temperaturen am Hut; bei der „Kühlung“ handelt es sich vielmehr um einen Gebirgszug …
 Das ist allerdings auch irgendwie Seemannsgarn, denn die höchste Erhebung der Kühlung ist der Diedrichshagener Berg mit 129,8 Metern über Normalnull. Nach Neusiedler Messung also 130 Meter. Und das würde selbst im Burgenland eher als Schlagloch denn als Berg eingestuft werden.
 Aber Berge, so urteilt Skipper Jan aus der Hansestadt Wismar, stören ohnehin nur die Landschaft. An der Ostsee, so erzählt der gut sechzigjährige Seebär, habe es schon Wellen so hoch wie Berge gegeben. Angesichts der Echolot-Anzeige von gerade mal 3,3 Metern lächle ich milde ob seiner Geschichte.
 Diese Provokation lässt Jan nicht auf sich sitzen. Er wickelt das komplette Repertoire seines Seemannsgarns ab: Zu DDR-Zeiten sei er unbemerkt nach Kiel gesegelt, also in den Westen. Weil es ihm dort nicht gefallen habe, sei er aber zurück gesegelt. Einer seiner Freunde sei gar nach Dänemark geschwommen, habe dort ein schlechtes Gewissen bekommen, weil er Repressalien gegen seine Familie befürchtete, und sei deshalb wieder heim geschwommen. Okay, sind ja nur gut 40 Seemeilen …
 Beide Geschichten könnten wahr sein. Theoretisch. Doch als mir Jan erklärt, dass die Fähnchen, die aus dem Wasser ragen, Seemannsgräber seien, beginne ich an ihm zu zweifeln. „Zwei Fähnchen an einem Stiel: Da liegt ein Offizier. Drei Fähnchen: Kapitän.“ Ich zeige auf einen Stiel mit vier roten Fähnchen. „Alter DDR-General!“
 Offenbar bin ich in der Heimat des „Schiemannsgarn“ gelandet. Immerhin weiß Jan, woher das Wort stammt: Es bezeichnet Reste von altem Tauwerk, mit denen man einst schadhafte Leinen „bekleedete“, also wickelte oder takelte. Die fade, niedrige Arbeit wurde von den Seemännern meist während einer Flaute erledigt. Und dabei entstanden die phantasievollsten Geschichten, von Monsterkrake, Riesenhai und natürlich Klabautermann.
 „Du musst an den Fischerbojen in Lee vorbeisegeln“, sagt Jan, als ich an der Pinne sitze. Jetzt hat er sich verraten. Es folgt ein kleinlautes Geständnis: Einzelne Fähnchen kennzeichnen Reusen, doppelte sind mit Grundnetzen verbunden, von dreifachen und vierfachen sollte man sich tunlichst frei halten.
 Hoffentlich stimmt wenigstens diese Version.
 „In Wismar“, so erzählt Jan, „gibt es einen Schiverleih.“ Nichts Besonderes, denke ich. „Wasserschi?“ – „Nein. Alpinschi und Snowboards.“
 Jetzt will der Ossi den Ösi endgültig verladen. Die „Kühlung“ ist wie erwähnt keine 130 Meter hoch und daher nicht explizit als Schiberg berühmt. „Ich schwöre es! Die Leute borgen sich dort die Wintersportgeräte aus, wenn sie in die Alpen fahren.“
 Ja, freilich. „Verschaukel mich nicht“, sage ich, weil er „Pflanz‘ wen andern“ nicht verstanden hätte.
 Wir legen an. Die Stimmung ist meines Misstrauens wegen unterkühlt. „Ein Bierchen muss noch drin sein“, sagt er. Ich lad‘ ihn ein. Mein Blick fällt auf die Werbetafel des Nachbarladens: „Schi-Verleih – Service und Verkauf auch für Snowboards“
 Okay. Vielleicht liegt die Wiege des Seemannsgarns ja doch in Neusiedl.
* Ohne Hilfsmittel wurde die höchste Temperatur der österreichischen Geschichte in Bad Deutsch-Altenburg gemessen, nämlich 40,5 Grad.