Sieben virtuelle Weltmeere
Eine Berührung an meiner Schulter ließ mich vom Laptop hochschrecken. „Du, Engerl?“ stieß ich hervor. „Na, wenn Du die Welt um Dich trotz heftigen Klopfens an der Terrassentür völlig vergisst, dann muss ich halt so hereinkommen“, sagte das Weihnachtsengerl, „was zieht Dich denn so in seinen Bann?“ Mit einer Spur von Sarkasmus in meiner Stimme setzte ich zu einer Erklärung an: „Vielleicht ist es ja den himmlischen Heerscharen entgangen, aber derzeit jagen die tollkühnen Männer in ihren schwimmenden Kisten rund um den Globus.“ Lässig fügte ich hinzu: „Ziemlich full coverage, media crew an Bord, gute Webpage. Daher ist es in diesem Advent auch nichts mit abendlichem Tee, Gebäck und einem guten Buch.“ Ich deutete auf meinen tragbaren Computer. Mein gefiederter Freund zeigte sich unbeeindruckt.
Mit leicht verschwörerischem Unterton fuhr ich fort: „Also, ich bin die meiste Zeit online, Senatssitzung hin oder her, www.volvooceanrace.org ist stets dabei. Gute Grafiken der gewählten und zu erwartenden Kurse, Features wie Wetterlage, Windstärke und -richtung, Speed und Kurs der Boote oder die E-Mails direkt von den Booten ermöglichen mir ganz neue Einsichten.“ Beim Erzählen geriet ich fast ins Schwärmen: „Und dann noch die Videoclips aus Bordperspektive! Man kann sich die 25 Knoten plötzlich bildlich vorstellen!“ Das Engerl schien nur mäßig interessiert, trotzdem fuhr ich fort: „Auch für meine meteorologische Fortbildung ist das gut. Ich kontrastiere die Kurs- und Wetterdaten mit ‚meinem‘ kostenlosen Wetterprogramm von GRIB.US und lerne eine Menge: Dass die Rossbreiten im Atlantik bei einer Nord-Süd-Querung üblicherweise rund um den 30. Längengrad am schmälsten sind, wie die Tiefdruckgebiete von Brasilien Richtung Afrika ziehen, was die Skipper tun, um auf diese Tiefs gleichsam aufzuspringen und so weiter.“ Mein Innehalten nutzte das Engerl, um mir nicht nur die – hiermit übermittelten und von mir geteilten – Wünsche für ein gesegnetes Weihnachten und 2009 sowie die obligate Handbreit Wasser unter dem Kiel an die Leserinnen und Leser aufzutragen, sondern sich auch zu verabschieden.
Verwirrt und enttäuscht blieb ich zurück. Kein interessiertes Nachfragen, kein Zeichen von Interesse seitens des Engerls, dem ausgewiesenen Segelexperten, das seine Schwingen so oft über die Segler in aller Welt gehalten hatte? Schade. Schon wollte ich mich wieder in der virtuellen Segelwelt verlieren, als mein Auge auf einen Zettel fiel, den das Engerl offensichtlich vergessen hatte: Ein detaillierter Dienstplan der Himmlischen für alle acht Schiffe im Race, welcher Seraphin wann Oberaufsicht hat, welches Hilfsengerl wen besonders umsorgen soll usw. Versöhnt und beruhigt ob dieser Unterstützung konnte ich mich wieder dem aktuellen Ten-Zulu-Report zuwenden …