Im Nimmerland der Ozeane
Mit James Wharram hat ein Überlebensgroßer die Welt verlassen. Sein Vermächtnis aber segelt weiter, daran hat Wharram-Kenner Michael Lynn keinen Zweifel
Wenn die Londoner Times eine ganze Seite für einen Nachruf freiräumt, ist das bemerkenswert. Wenn sie es für einen Bootsdesigner tut, dürfen wir staunen. Andererseits: James Wharram hat alle Ehrungen verdient, die unsere eilige Welt sonst nur für Popstars, Modezaren und Industriekapitäne übrig hat – und mehr.
Seine außerordentliche Bedeutung war spürbar, als sich Ende Dezember eine weltweite Gemeinschaft im Web zur Online-Übertragung der Trauerfeier versammelte. Einer der Redner war Rory McDougall, der in den 1990ern als 21-Jähriger auf einem sechs Meter kurzen Wharram allein den Globus umrundet hat: „Ich werde James ewig dankbar sein. Ich bin um die Welt gesegelt und dabei jeden Tag mehr zu mir selbst. Auf welch anderem Boot wäre eine solche Reise in so jungen Jahren möglich gewesen?”
Dankbarkeit für wahrgewordene Träume spiegeln auch zahllose Botschaften wider, die als Reaktion auf die Todesnachricht Mitte Dezember in einschlägigen Foren und Facebook-Seiten aufpoppten: James Wharrams hat nicht behauptet, dass ein anderes Leben möglich ist – er hat es bewiesen.
Damit steht er in einer langen Reihe kreativer Köpfe, die einen Notausstieg aus der bleiernen britischen Nachkriegszeit suchten: 1954 veröffentlichte J.R.R. Tolkien „Der Herr der Ringe“. 1955 begannen Mick Jagger und Dick Taylor, Blues zu spielen. 1958 gründeten John Lennon, Paul McCartney und George Harrison ihre erste Band. Und 1956 bestaunten die Zöllner der Insel Trinidad ein ziemlich bizarres Wasserfahrzeug, dem ein von einer abenteuerlichen Atlantiküberquerung zerrupftes Trio entstieg: Die 19-jährige Jutta Schultze-Rhonhof, die 34-jährige Ruth Merseburger – und Jim Wharram, 28, der sich und der Welt damit gezeigt hatte, dass ein 28,5 Fuß kleiner Katamaran ein ozeantüchtiges Boot sein kann.
Genug Leben für zwei Bücher
Wie sich dieses Trio auf einem selbstgebauten Floß in einer Karibikbucht niederließ, unter freiem Himmel einen 40-Fuß-Katamaran baute und via New York zurück nach Dublin segelte, wie aus diesen bescheidenen Anfängen eine inspirierende Lebensphilosophie, eine erstaunliche Designer-Karriere und eine tausende Boote zählende Flotte von Selbstbau-Katamaranen wuchs, das füllt nicht ein Buch, sondern zwei. James Wharram hat sie im Abstand von fünf Jahrzehnten geschrieben: „Two Girls, Two Catamarans“ und, jüngst erschienen, „People of the Sea“ (siehe auch YR 6/2021). Dazwischen veröffentlichte er Essays zu Bootsdesign und Seetüchtigkeit, die allesamt bis heute gültig sind.