Langer Atem
In dem neuen Buch „Wind“ lässt der Argentinier Santiago Lange seinen Olympiasieg in Rio, aber auch sein gesamtes Leben Revue passieren. Es ist geprägt von seiner Entschlossenheit, trotz größter Widrigkeiten an gesetzten Zielen festzuhalten. Eine Lese-Empfehlung von Judith Duller-Mayrhofer
Ein Mittfünfziger holte 2016 im Nacra17 Olympiagold, einer Klasse also, in der eigentlich junge Athleten das Sagen haben – das alleine ist eine bemerkenswerte Story. Zum Stoff für Hollywood wird sie durch die Tatsache, dass dieser Mann nur neun Monate zuvor mit der Diagnose Lungenkrebs konfrontiert war und sich einer siebenstündigen Operation unterziehen musste, bei der die Ärzte den gesamten linken Oberlappen des Organs entfernten. Er verlor sein Ziel aber nicht aus den Augen, kämpfte sich zu alter Stärke zurück und bewies, dass mit maximaler Beharrlichkeit das Unmögliche möglich werden kann.
Hauptdarsteller in diesem wahr gewordenen Märchen ist der Argentinier Santiago Lange, der in Rio neben den Österreichern Thomas Zajac und Tanja Frank an oberster Stelle des Podests stand und erstmals in seiner Karriere eine Goldmedaille um den Hals gelegt bekam. Nach den Spielen verfasste er ein Buch über sein Leben, das nun in dem zum Red-Bull-Konzern gehörigen Verlag Pantauro auch auf Deutsch erschien.
Es heißt „Wind“ und ist definitiv lesenswert. Das liegt zum einen daran, dass Lange nicht selbst in die Tasten gehauen, sondern das Schreiben einem Vollprofi überlassen hat. Das merkt man an Stil und Aufbau, Sprachgewandtheit und formaler Sauberkeit; eine Wohltat. Zum anderen, und das ist entscheidend, stellt dieses Buch weit mehr als eine Biographie im herkömmlichen Sinne dar, es nimmt den Leser vielmehr auf eine spannende Reise durch die Geschichte des Segelsports mit. Lange kann von einem halben Jahrhundert am Wasser erzählen, aber auch von einem gewundenen Weg, der ihn zu einer erstaunlichen Zahl unterschiedlicher Klassen führt, etwa Optimist, Cadet, 470er, Moth, Snipe, Laser oder Soling. Mitte der 1990er-Jahre wechselt er auf den Tornado und fungiert in der Vorbereitungsphase auf die Spiele 2004 als Trainingspartner der regierenden Olympiasieger Roman Hagara und Hans Peter Steinacher. Die Österreicher holen erneut Gold, Lange und sein Partner Bronze. „Es war interessant zu beobachten, wie zwei so unterschiedliche Kulturen wie die unsere und die österreichische, jede auf ihre eigene Art und Weise, zu Höchstleistungen gelangen“, erinnert sich Lange an diese Zeit. „Sie (gemeint sind Hagara/Steinacher) waren die reine Voraussicht. Wenn alles nach Plan verlief, waren sie unbesiegbar. Aber sobald eine Schwierigkeit auftauchte, schlugen wir sie. Gewohnt zu improvisieren hatten wir kein Problem damit, schnelle Entscheidungen zu treffen.“ Auch sein Besuch beim Segelmacher Robert Jessenig in dessen Werkstatt in Klagenfurt findet Eingang in seinen Bericht – und dürfte so manch österreichischem Leser ein Schmunzeln entlocken …
Verzweigte Aktivitäten
Santiago Lange, der in Tokio zum siebenten Mal an Olympischen Spielen teilgenommen hat, machte sich aber auch in anderen Bereichen des Segelsports einen Namen, etwa als Schiffsbau-Ingenieur, der in Southampton ein entsprechendes Studium absolviert hatte und für Größen wie Germán Frers arbeitete, als Teil des schwedischen America’s-Cup-Syndikats Victory Challenge oder als zweifacher Teilnehmer am Volvo Ocean Race. Und so führt seine Erzählung zu diversen legendären Stationen der Segelszene, an denen der Leser Halt machen und eigene Memorabilien hervorkramen kann.
Im letzten Teil des Buches beschreibt er detailreich die Olympiakampagne für 2016, für die er sich mit der halb so alten Cecilia Carranza Saroli zusammen getan hatte, und spart dabei die Schwierigkeiten, die sich aus dieser Konstellation ergaben, nicht aus. Mit großer Offenheit spricht er über den Keulenschlag der Krebserkrankung, die schwierigen Entscheidungen, die es zu treffen galt, und die enormen Anstrengungen, die er für den Weg zurück auf sich nahm. Als sich zwei seiner Söhne, Yago und Klaus, im 49er ebenfalls für die Spiele in Rio qualifizieren, kann er sein Glück kaum fassen: „Als Kind habe ich von Weltmeisterschaften und Ozeanüberquerungen geträumt, aber niemals hätte ich mir vorstellen können, eines Tages mit zwei meiner Kinder als Teil derselben Delegation das Olympiastadion zu betreten. Wir waren eine Familie und drei Sportler, die startklar waren, um ihr Land zu vertreten.“
Der Argentinier, der am 22. September seinen 60. Geburtstag feiert, belässt es aber nicht beim Nachzeichnen seiner Sportkarriere. Er gewährt tiefe, hoch interessante Einblicke in Trainingsalltag und -philosophie, aber auch in sein Privatleben.