Michel und die Sklavinnen
Kolumne Jürgen Preusser: Der wahre Unterschied zwischen Mann und Frau liegt im Kälteempfinden
Von der Bundeshymne bis zur Abseitsregel: Alles, einfach alles muss heutzutage gegendert werden. Doch habt keine Angst, meine lieben GeschlechtsgenossInnen: im letzten, im allerletzten geschützten Macho-Revier werden wir bis zum Weltuntergang unter uns bleiben.
Nein, ich meine weder die Sakristei, noch Fußballstadion oder Golfplatz. Es geht um einen bestimmten Temperaturbereich. Besser gesagt um einen unbestimmten, weil dieser vom subjektiven Kälteempfinden abhängig ist und mit objektiven Zahlen weder mess-, noch definier- noch eingrenzbar ist. Sollte man zumindest meinen.
Doch zunächst ein paar Fakten:
Man(n) geht auch ins Wasser, wenn selbiges weniger als dreißig Grad hat.
Man(n) kann in der Badehose an Deck ein Buch lesen, wenn er im Schatten sitzt.
Man(n) nimmt keine Daunenjacke mit ins Dinghi, weil sich beim Abendessen an Land ein historischer, meteorologisch unerklärlicher Temperatursturz ereignen könnte.
Man(n) besitzt überhaupt keine Daunenjacke.
Man(n) sagt nicht „brrrr“ wenn er das Foto von einem Eisbären sieht.
Man(n) fängt nicht an zu zittern, wenn er jemanden sieht, der nur ein T-Shirt statt Pulli und Schal trägt.
Man(n) ist eine Art heißblütiger Chuck Norris, ein aktiver Vulkan in der Antarktis, ein Kanonenofen im letzten Biwak vor dem K2-Gipfel (… und manchmal so ang’soff’n, dass er weder Kälte noch sonst was spürt).
Doch nun zur hoch wissenschaftlichen Erklärung: Das Wort Emanzipation stammt aus dem Lateinischen. Emancipare bedeutet ursprünglich sinngemäß, „einen Sklaven in die Freiheit entlassen“. Nun, ich fürchte, dieser Vorgang hat längst nicht in allen Lebensbereichen stattgefunden. Frauen sind unter anderem Sklavinnen ihres Temperaturempfindens. Mit festem Boden unter den Füßen fällt das nicht so auf. Doch schon die kleinste Welle, die geringste Krängung und der kümmerlichste Wasserspritzer verdrehen die Realität.
Ehe jetzt eine wütende Horde kälteresistenter Seglerinnen mit gezücktem Bootshaken über mich herfällt: Ja, es gibt Ausnahmen.
Es gibt Frauen, die bei jedem Wetter an der Kante sitzen oder ohne Handschuhe die Spi-Schoten fahren. Und es gibt Männer, die beim leisesten Lüfterl unter Deck verschwinden, sich im Schlafsack verkriechen und am nächsten Tag trotzdem an einem offensichtlich lebensbedrohlichen Schnupfen leiden.
Unsere lieben deutschen Freundinnen und Freunde können Dinge, die sich nicht in ein Zahlen-Korsett zwängen lassen, nicht so einfach hinnehmen. Daher haben sie das Klima-Michel-Modell entwickelt. Es wird sogar vom Deutschen Wetterdienst verwendet und zieht nicht nur Temperatur, Wind-Chill und Luftfeuchtigkeit heran. Offizielle Beschreibung: „Durch die Berücksichtigung der für den menschlichen Wärmehaushalt relevanten Größen ist man mit dem Modell in der Lage, das Temperaturempfinden eines Durchschnittsmenschen hinsichtlich Behaglichkeit, Wärmebelastung und Kältestress zu beschreiben.“
Und jetzt kommt’s: Dieser Durchschnittsmensch heißt „Michel“, ist 1,75 m groß, 75 Kilo schwer, hat 1,9 Quadratmeter Körperoberfläche zu bewirtschaften, ist 35 Jahre alt und offensichtlich männlich. (Andernfalls hieße er ja Michaela.)
Bitte, das ist kein Schmäh! Aber wie zur Teufelin soll so ein Modell funktionieren, das die offensichtlichen Unterschiede zwischen Frau und Mann, zwischen Mann und Frau, zwischen Frau und Frau, sowie zwischen Mann und Michel nicht berücksichtigt? Es gibt keinen Durchschnittsmenschen, zumal es ein Skipper nicht gerade leichter hätte, würden sämtliche Crewmitglieder Michel heißen. Kommandieren Sie so ein Schiff einmal g’scheit!
Liebe Eisbrecherinnen und Eisbrecher: Zieht euch so an, dass euch weder zu kalt noch zu warm ist. Und der Michel soll in Gatsch hupfn. Mit oder ohne Daunenjacke.