Eisige Erinnerungen
Exklusiver Vorabdruck des neuesten Buchs der Seenomaden, das Mitte September im Delius Klasing Verlag erscheinen wird
Während die Landschaft an mir vorbeizieht, verstehe ich immer besser, wie groß Grönland ist. Eine Binsenweisheit, klar, und vermutlich das Erste, was jedem dazu einfällt: Grönland, die größte Insel der Welt. Doch zwischen theoretischem Wissen und dem eigenen Erleben liegen Welten. Es macht einen himmelweiten Unterschied, sich eine See- oder Landkarte in der warmen Kajüte anzusehen – oder tagelang entlang einer Küste zu schippern, die kein Ende nehmen will.
Unsere Nachtfahrten sind von windstiller Sanftheit geprägt. Die Luft kalt und kristallklar, das Meer seidig schimmernd, das Licht pastellfarben. Seit wenigen Tagen hat sich die Finsternis verabschiedet, es gibt nur noch Dämmerung sowie die Andeutung eines Sonnenauf- und -untergangs. Wir schwenken in den Hamborgersund, wo sich gewaltige Bergketten erheben. Nomad, unser segelndes Basislager, bringt uns zu einer verzauberten Bucht mit dem Namen Qunnertooq. Vorsichtig tasten wir uns durch die enge Einfahrt, starren gebannt auf das Echolot. Die meisten Buchten und Fjorde Grönlands sind unvermessen, die Seekarten zeigen nur weiße Flecken. Oft helfen wir uns mit Wanderkarten, in denen die Küstenlinien genauer dargestellt sind. Manchmal fährt ein Teil der Crew mit dem Dingi voraus, um die Tiefe mit dem Handecholot zu messen.
Heuer kämpfen wir mit einer weiteren Hürde. Die innere Bucht ist völlig zugefroren und im eisfreien Bereich betragen die Wassertiefen mehr als 60 Meter. Viel zu tief um zu ankern. Wir folgen einer schmalen, offenen Rinne, um Nomad längsseits an einer Felswand zu vertäuen. Das Manöver glückt, doch Wolf ist unruhig. "Hier können wir nicht bleiben, wenn der Wind dreht und das Eis auf uns drückt, sind wir gefangen." Also nichts wie weg. Zurück in der offenen Bucht, fahren wir mit so viel Schwung in den weichen Eisrand, bis Nomad feststeckt, dann lassen wir den Haken hinunter. Fredl schwingt sich aus freien Stücken über Bord, klemmt sich den Bügelanker unter den Arm und steckt ihn zehn Meter vor unseren Bug ins Eis. Ein Ankermanöver der besonderen Art und wieder eine Premiere.
Nebelschwaden ziehen auf. Welch fantastischer Ort! Wie kann es sein, dass wir hier sind?