Vom Exil zum Paradies

Die Insel Elba war einst wild umstritten. Jürgen Preusser erkundete sie im Rahmen einer ebenso spannenden wie entspannten Raumschots-Runde und kam in Schwärmen

Vom Exil zum Paradies

Natürlich würde ich es hier länger aushalten als 300 Tage. Ich dürfte Frau und Kinder mitnehmen, müsste mir also nicht mit einer Mätresse die Zeit vertreiben. Okay, meine Frau heißt nicht Marie-Louise und ist nicht die Tochter des österreichischen Kaisers Franz. Nach mir würden die Bewohner der Insel vermutlich auch nicht jede zehnte Villa, Via oder Piazza benennen. Ich brauche kein Kriegsschiff, auf dem 2.000 Leibsoldaten Platz finden. Mir reichen eine Charteryacht, vierzig Fuß, und vier Freunde als Mitsegler.

Warum? Ich heiße nicht Napoleon Bonaparte, es liegt mir fern, einen Bourbonen namens Ludwig XVIII vom Thron zu stürzen und ich will schon gar nicht die halbe Welt erobern. Drum werde ich nicht auf die Insel Elba verbannt, sondern kann hier Urlaub machen.

Elba trug seit der Römerzeit den wenig schmeichelhaften Spitznamen „Russige Insel“, weil der Staub der Eisenerzminen und der Rauch aus den Schloten der Schmelzöfen die Häuser mit einem weißgrauen, seifigen Schleim überzogen. Die nach Sizilien und Sardinien drittgrößte Insel Italiens war während Napoleons Exilzeit von Mai 1814 bis Februar 1815 alles andere als ein Paradies. Sie war Heimat von sehr armen, hart arbeitenden Menschen mit geringer Lebenserwartung. Der größenwahnsinnige Franzose zauberte unerwartet Hoffnung in die aschfahlen Gesichter, weil er die Bergwerke renovieren und neue Straßen bauen ließ, verfallene Höfe in Villen verwandelte und einen Teil der Verwaltung reformierte.

„Der Capitano da drüben glaubt, dass Napoleon wiederkommt“, lacht der Eisverkäufer Fabricio. Er zeigt auf einen Hundertjährigen, den ich seit längerem beobachte. Er sitzt mit speckiger Kapitänsmütze auf einer Steinbank, raucht seine gelbe Zigarette an der Corona-Maske vorbei und starrt auf die Schiffe im Hafen von Portoferraio. „Gio war da, als ich ein kleiner Junge war“, erzählt Fabricio. „Dann hab‘ ich in Leverkusen zwanzig Jahre lang Gelato verkauft und schlechten Fußball gesehen. Jetzt bin ich wieder zurück. Und Gio ist immer noch da.“ Mit ihm das traurigste Kapitel der Geschichte dieser Insel: „Er hat damals seine Schwester und seine beiden Neffen verloren“, erzählt Fabricio, plötzlich ganz ernst.

Damals? Nein, den verehrten und gehassten Napoleon hat selbst der alte Gio nicht mehr erleben dürfen oder müssen. Mit damals meint der fußballnarrische Eisverkäufer den 22. September 1943. An jenem Tag wurde die Andrea Sgarallino von zwei britischen Torpedos getroffen. Der kleine Handelsdampfer versank innerhalb von Minuten 1,3 Meilen vor dem heute zauberhaften Naturhafen von Portoferraio. Für Navi-Freaks: 42° 50′ N, 010° 21′ E. Makabres Detail: Erst kurz zuvor war das Schiff unter die Flagge der deutschen Kriegsmarine gestellt worden. 300 Menschen starben. Viele deutsche Soldaten, doch größtenteils zivile Arbeiter aus Elba, die auf ihre Insel gebracht werden sollten.

Menschen wie Fabricio gibt es viele auf Elba: Nicht alle verkaufen so grandioses Eis, doch sie sind lebensfroh, humorvoll, freundlich. Alle tragen Masken, halten Abstand und sind disziplinierter als manch andere in Europa. Die Jungen wissen nichts mehr über Bonaparte und Bomben, doch der Schock der ersten Corona-Phase in Italien sitzt tief.

Mit der Seilbahn auf den Berg

Eine Marina (Esaom Cesa) und ihr Ableger (Edilnautica) liegen sehr ruhig in einem unansehnlichen Werftgebiet. Die Stadtmarina (Darsena Medicea) ist wunderschön, aber laut und anfällig für den Schwell durch die Schiffe. Hilfsbereit sind die Marineri da wie dort. Und mit der empfohlenen Voranmeldung per Funk (Kanal 09 in allen Häfen) oder per Handy nehmen sie es hier im September nicht mehr so genau. Im Hochsommer, speziell zur Ferragosta rund um den 15. August, soll das anders sein: In den Marinas und Kanälen am toskanischen Festland liegen unzählige kleine Motorboote mit Außenbordern. Besonders Porto Azzuro und die Buchten entlang der Ostküste Elbas sind für die Menschen aus Grosseto, Piombino, Livorno, Pisa und Florenz so etwas wie eine Kombi aus Neusiedler See und Schneeberg für die Wiener. Nur dass sie nicht mit dem Auto, sondern mit eigenem Boot anreisen. Segler sind klar in der Minderheit, aber durchaus vertreten.

Der Hafen von Marciana Marina weiter im Nordwesten der Insel besteht aus zwei Teilen. Der südliche ist sicherer und praktischer. Die 280 Liegeplätze werden vom Segelclub Circolo della Vela verwaltet. Um das Büro zu finden, braucht man Phantasie. Die wahre Attraktion dieses idyllischen Ortes liegt tausend Meter über dem Meer. Die Seilbahn, die auf den höchsten Gipfel der Insel führt, ist trotz Corona in Betrieb. Problemlos, denn die Cabinovia auf den Monte Capanne besteht aus gelb lackierten Gitterkäfigen, in denen jeweils maximal zwei Personen bequem stehen können. Von März bis September ist das originellste Verkehrsmittel Italiens in Betrieb. Und das seit 1963 unfallfrei. Die Schlange bei der Talstation im Ort Marciana Alta scheint endlos, löst sich aber innerhalb von wenigen Minuten auf, weil die Menschen auch hier mindestens zwei Meter Abstand halten.

Der Rundumblick vom zerklüfteten Gipfel auf 1.016 Metern ist atemberaubend. Malerische Ortschaften, unverkennbar toskanisch, Segelboote als winzige Dreiecke auf tiefblauem Wasser. Das riesige Korsika im Westen, die Heimat Napoleons. Die Inseln Capraia im Norden, Montecristo und Pianosa im Süden, das Festland der Toscana mit Livorno und Piombino im Osten. Vom Gipfelkreuz aus studiere ich eine virtuelle Seekarte, aus der man sogar den Wind lesen kann: Die Schleier über dem Wasser verheißen Ostwind im Norden und Westwind im Süden. Da wir die Inselrunde gegen den Uhrzeigersinn in Angriff genommen haben, werden wir wohl immer raumschots segeln, träume ich.

Den gesamten Revierbericht lesen Sie in der Ausgabe 11/2021, am Kiosk ab 5. November!

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