Über Entscheidungen
Wie lang muss eine Ozeanetappe sein, damit sie zu einem bleibenden Erlebnis wird? Wie stark der Wind? Braucht es unbedingt Kap Hoorn oder die Nordwestpassage, um ein Seglerleben vollständig zu machen? Und taugen Seemeilen und Beaufort überhaupt als skalierbarer Maßstab für das Glück eines Seglers, einer Seglerin? Oder lernen wir über diese Parameter nur, dass der Sinn des Lebens eine relative Größe ist? Weil weit und viel segeln nicht prinzipiell bedeutet auch glücklich zu leben? Reflexionen dieser Art beschäftigten mich, als wir nachts über die Hecate Strait bretterten, ein berüchtigtes Seegebiet in British Columbia, flach, strömungsgeplagt und gerne stürmisch. Mich beschenken Ozeane mit einem Reichtum an Perspektiven wie kein anderer Ort dieser Welt.
Meile für Meile lehrt uns das Meer, dass unser inneres Idealbild nicht immer deckungsgleich mit der äußeren Wirklichkeit ist. Nicht jeder Tag an Bord steckt voller Überraschungen und Abenteuer. Nicht in jedem Hafen warten die interessantesten Salzbuckel auf ein anregendes Gespräch und nicht jede einsame Insel vermittelt Postkarten-Idylle. Der Ozean ist auch keine Projektionsfläche romantischer Seefahrerfilme, in deren Abspann immer „Happy End“ steht. Und es gibt nie eine Garantie für wohlbehaltenes Ankommen. Auf See kann aus dem Nichts ein Sturm aufziehen, wir können krank werden oder uns verletzen und am Boot kann so manches kaputt gehen. Unser Lebensweg ist ein Wahlgang. In jedem Augenblick stehen wir vor Entscheidungen: Losfahren oder bleiben; reffen oder nicht reffen; Hafen oder Ankerbucht? Jeder Entschluss ein Unikat.
Selbst als wir die Hecate Strait nach „nur“ hundert Seemeilen geschafft hatten und gut in Haida Gwai ankamen, fielen wir uns glücklich in die Arme, spürten, wie intensiv das Leben ist. So gesehen ist jede Etappe, jeder Törn eine Aussicht auf Einsicht. Ob Island-Hopping, Atlantiküberquerung oder Weltumsegelung.
DORIS RENOLDNER ist seit 1989 mit Wolf Slanec auf allen Meeren unterwegs und hat die Welt zwei Mal umsegelt.