Die Fähre aus dem Nirgendwo

Manöverkritik. Gelegentlich sollte man touristisches Verhalten überdenken und korrigieren, bevor es ein anderer tut

Die Fähre aus dem Nirgendwo

Drei junge Paare aus Belgien machen ihren Katamaran neben uns an der Kaimauer eines kleinen Ortes irgendwo am Peloponnes fest. Eine junge Frau zupft an den Fendern herum. Mein Blick fällt zwangsläufig auf ihren Nacken. Dieser ist mit chinesischen Schriftzeichen überfrachtet. Es drängt sich die Frage auf, ob es unter knapp einer Milliarde Chinesinnen eine einzige gibt, die sich ein flämisches Wort in den Nacken tätowieren lässt.

Zufällig wird in unserem Cockpit genau jetzt über künstliche Intelligenz diskutiert: „Es wär’ g’scheiter, zuerst die natürliche Dummheit abzuschaffen“, sagt einer. „Dann dürften wir dich nie ans Ruder lassen“, unterbricht ihn ein anderer. Während des einseitigen Gelächters präsentiert uns die zweite Belgierin ihr Arschgeweih: Eine bedingt kunstvolle Collage aus dem Kopfschmuck eines brunftigen Elchs und einer Yagi-Antenne.

Der andere Nachbar brüllt den belgischen Jungskipper an, weil er ganz sicher ist, dass die Ankerkette des Katamarans über seiner eigenen liegt. Außerdem wolle er generell keine Nachbarn, schon gar keine belgischen, die ihn beim Essen stören. Es handelt sich um einen Franzosen mit dem Charme eines zwangspensionierten Strandpolizisten aus Saint-Tropez. Sein grenzwertig buschiger Schnauzbart wurde offenbar unmittelbar vor dem Eklat in Erbsensuppe getaucht.

Richtig laut wird es, als ein mit Runen verzierter Belgier zurückbrüllt. Jener sieht aus wie die C-Movie-Naturgewalt Jean-Claude van Damme in einer zu engen Feinripp-Unterhose. „Belgier und Franzosen lieben einander“, erklärt unser einziges französischsprachiges Crewmitglied. „Was du nicht sagst!“, täuscht das bereits erwähnte Rudergänger-Talent Erstaunen vor. Harmlose Retourkutsche.

Jetzt kommt unser Jogger vom Training zurück: Rosa Hose mit giftgrünen Streifen, gackerlgelbe Laufschuhe. Das violette Leiberl mit 3-D-Zackenmuster erinnert mich an Sehstörungen bei einem Migräneanfall. „Willst du nicht bei den Belgiern einziehen“, frage ich. „Den nehmen wir nicht“, wehrt sich Van Damme, der sich nur scheinbar beruhigt hat. Denn jetzt zieht er auf Deutsch über den Franzosen her: „Ischt nur laut, machen Blö-blö-blö, und ganze Welt ist blöd und böse.“

Inzwischen versucht ein massiver Texaner dem Franzosen klarzumachen, dass er nicht ablegen könne, weil sich die Anker ineinander verkeilt hätten. Er hat auf seiner Ketsch die Südstaatenflagge gehisst und ist ähnlich stilvoll gekleidet wie unser joggender Kanarienvogel. In Größe XXXXXL wirkt das noch beängstigender. Da sich der Franzose weigert, auch nur ein englisches Wort zu verstehen, brüllt jetzt der Ami.

Der Jogger trägt nur noch in Türkis gehaltene Boxershorts. Vermutlich ein Wahlzuckerl einer kurzfristig umgefärbten Partei. In diesem Aufzug macht er öffentliche Dehnübungen, die von Atemstößen in der Lautstärke eines Hochdruckreinigers für Molkerei-Wannen untermalt werden. Er hat seine strafrechtlich relevante Garderobe über eine Holzbank drapiert.

Dieser Farbtropfen bringt das Fass des bisher erstaunlich entspannten Hafenmeisters zum Überlaufen. Der Grieche erhebt sich in Zeitlupe von seinem Sessel vor der Taverne, schreitet behäbig zur Kaimauer, klatscht leise in die Hände und sagt auf Deutsch, Französisch und Englisch, dass wir alle ablegen müssen. Nicht etwa, weil wir uns akustisch, optisch oder seemännisch danebenbenommen hätten, sondern weil hier in fünf Minuten die Fähre anlegt. Begleitet von mehrsprachigen Flüchen, versuchen die drei anderen Crews das Ankerketten-Chaos zu entwirren. Ihre Yachten treiben manövrierbehindert durch die Hafenbucht. Wir sind frei, doch im Cockpit herrscht nachdenkliche Stille. Bis einer sagt: „Das ist lustig: Laut Google wird dieser Ort von keiner Fähre angelaufen.“ Ergänzung: „Hafenmeister gibt es da übrigens auch keinen …“

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