Magischer Grenzgang
Auf ihrer dritten großen Reise querten die Seenomaden die legendäre Nordwestpassage. Sie lernten dabei sich zu gedulden, aber auch die Gunst des Augenblicks zu nutzen
Ich zähle nicht zu den Mutigen und Waghalsigen dieser Welt, ich zittere öfter, als mir lieb ist. Beim Autofahren zum Beispiel oder beim Klettern in steilen Wänden, manchmal auch in brenzligen Situationen auf See. Doch ein Fieber sitzt in mir: die Neugier. Sie siegt über meine Ängste und treibt mich zu neuen Horizonten. Dennoch kreisen viele Fragen durch meinen Kopf, als wir Ende Juli 2016 Grönland verlassen. Wollen wir wirklich weiter in den Norden segeln? Unbekannte Tore öffnen, noch entlegenere Ecken erkunden? Wollen wir tatsächlich die legendäre Nordwestpassage wagen, jenen schwierigen Seeweg, der nördlich des amerikanischen Kontinents den Atlantik mit dem Pazifik verbindet?
Die Nordwestpassage ist ein Mythos. Viele Expeditionen scheiterten tragisch, weil der Weg durchs Eis nicht gefunden wurde. Sir John Franklin verschwand zwischen 1845 und 1847 mit zwei Schiffen und 129 Mann nahezu spurlos, erst 1906 gelang dem Norweger Roald Amundsen die erste erfolgreiche Durchquerung. Seither hat sich vieles verändert, vor allem die Natur. In den vergangenen Jahren fuhren Kreuzfahrtschiffe, aber auch Yachten aller Größen und Bauarten durch diesen unwirtlichen Seeweg – das Tauwetter in der Arktis machte es möglich. Doch die einige tausend Meilen lange Nordwestpassage bleibt auch ohne undurchdringliche Eisbarriere eine echte Herausforderung; es warten unzureichend geschützte Ankerplätze, heimtückische Wetterkapriolen, kaum kartierte Abschnitte oder hungrige Eisbären. Und vollkommen verschwunden ist das Eis auch im kurzen arktischen Sommer nicht. Immer wieder lauern mehr oder weniger dichte Eisfelder, die mit Wind und Strömung treiben.
Lieber zu viert
Auch deshalb möchte ich die Nordwestpassage nicht zu zweit angehen. Zur Verstärkung steigen in Upernavik, im Nordwesten Grönlands, unsere langjährigen Segelfreunde Andrea und Rudi Kiener an Bord. Beide sind aus hartem Holz geschnitzt, keine Reise ist ihnen zu unbequem, keine Welle zu hoch und kein Wind zu stark.
Also auf nach Devon Island. In Harmonie mit den Wellen rauscht Nomad in die Baffin Bay, jenen 400 Seemeilen breiten Meeresarm zwischen Grönland und der kanadischen Arktis. Der Wachrhythmus zu viert gestaltet sich einfach, wir wechseln wie immer alle drei Stunden, sitzen aber zu zweit im Cockpit. Einmal sind Kudi und Andi dran, dann Wolf und ich. Man kann sich abwechselnd unten in der Kajüte aufwärmen, die Position checken und Tee kochen, trotzdem bleibt der Ausguck immer besetzt. Unermüdlich halten wir Ausschau nach Eisbergen, schließlich treibt unser Boot wie eine Muschel in dieser unermesslichen Weite und wir sind völlig auf uns allein gestellt. Selbst in UKW-Reichweite würde uns im Zweifel niemand hören. Das AIS bleibt fortan leer. Keine Kontakte. Abgeschnitten vom Rest der Welt segeln wir bei moderaten südöstlichen Winden Meile für Meile dem Lancaster Sound entgegen, dem Tor zur Nordwestpassage. Zu unserer Überraschung wechseln wir ohne großes Trara die Kontinente. Bin zutiefst dankbar für diese problemlose Überfahrt; die Strecke, die sich zwischen dem 73. und dem 75. Breitengrad bewegt, ist nicht umsonst als Grenzgang verschrien.