Fußbreit Wasser unter dem Kiel
Abaco Sea ist ein flaches, glattes, kleines Meer mit großem Reiz. Zumindest für solche, die langsames Leben lieben
Die Sehnsucht nach dem großen, weiten Meer zieht Menschen auf die Schiffe. So hört man es in Liedern, liest man es in Texten, wörtlich bei Saint-Exupéry. Und gewiss gibt es Menschen, denen die Weite der Ozeane das bewegende Motiv für ihre Seefahrt ist. Reid Stowe ist exemplarisch hier zu nennen, der – man erinnert sich der Nachrichten anlässlich seines Landfalls im Sommer 2010 – 1.152 Tage ohne Pause auf See verbrachte. Die Zeit nutze er unter anderem um die Kursfigur eines Wals in das zerfließende Element des Stillen Ozeans zu segeln: Flosse auf der Höhe von Panama, Schnauze querab von Chile – dazu braucht es großes, weites Meer.
Wer in abstrakter Lebenskunst weniger begabt ist, nährt eine andere Sehnsucht. Es ist die Sehnsucht nach der Landung an immer anderen Orten. Das Meer bietet die grenzenlosen Bahnen zu vielfältigen Wundern an seinen Rändern, und auch die Meere selbst sind erkundenswerte Ziele. Denn jedes Meer ist anders, riecht anders, zeigt andere Farben, verhält sich anders, wird von anderen Lebewesen bevölkert, anderen Kulturen gesäumt, auch Menschen anderer Wesensarten befahren. Da gibt es viel zu tun, weil es mehr Meere gibt als selbst in einem langen Leben erkundet werden könnten.
Manche Meere sind für Meeressammler auch leicht zu übersehen. Abaco Sea zählt zu diesen.
Geheimnisträger unter den seegestützten Seelenreisenden kennen die Abaco Sea als Rast- und Wendepunkt. Gerastet wird hier nach langen Überfahrten. Gewendet, weil jeder Kurs weiter in den Norden in unbehaglichere Reviere führt. Der großen Mehrzahl windbewegter Weltenbummler wird der Blick auf die Abaco Sea jedoch von einem größeren Namen verdeckt: Bahamas. Die Abacos – es gibt zwei Inseln dieses Namens – sind der in den Nordosten ragende Zweig davon.
Bahamas also. Zu populär für Individualisten? Als Top-Destination des Tourismus stehen sie für alles, was der Handel mit dem tropischen Urlaubsglück zu bieten hat: laue Pools mit Blick aufs blaue Meer, Bootsfahrt in den Sonnenuntergang, Musik zur Blauen Stunde, Heineken und Heidsieck für die Gemütlichen, Haie gucken für die Helden. Das allein macht die Gegend für den seegängigen Menschenschlag nicht faszinierend. Dass sich jedoch in der Komposition aus gewachsenem und gebautem Paradies so viel Naturwüchsiges erhalten hat, erhebt sie in den Rang einer Sehnsuchtsregion – 670 der 700 Bahams-Inseln sind unbewohnt, also für solche wie uns reserviert.
Die Natur hat die Inselgruppe nicht nur mit den Ingredienzien veritabler Tropenparadiese ausgestattet. Aus der belebten Natur kommt auch das Fundament des Archipels, die Bahamas Banks. Dafür haben kleinste Wasserwesen in einer halben Milliarde Jahre Kalkgiganten aufgeschichtet. Steil erheben sie sich aus dem Atlantik und sind, wie der Name „Banks“ es sagt, oben flach. Baja Mar nannten die spanischen Entdecker die Gewässer über diesen Bänken, flaches Meer. Aus Baja Mar wurde Bahamas.
Das Stichwort flach führt uns vom großen Ganzen in den Mikrokosmos der Abaco Sea. Flacher als sie ist nur ein einziges Meer auf dem Planeten Erde: das „Meer der Wiener“, auch Neusiedler See genannt.
Geschuldet ist die eigenartige Topographie des Abaco Meeres einer dicht geknüpften Kette aus Cays, die den Hauptinseln Great und Little Abaco im Osten vorgelagert ist. Vor dieser Kette baut sich zudem das drittlängste Korallenriff der Welt auf. Über Riff und Cays kommt kein Schwell, so herrscht in ihrem Schutz Lagunenfriede, glitzerklares Wasser und besonders wenig Tiefgang.
Das ist die eine Eigenart der Abaco Sea, die sie zu einem Meer wie keinem anderen macht. Ein weiterer ist in ihrer Ausdehnung und Struktur zu finden. Von Norden nach Süden misst das Fahrtgebiet kaum mehr als 60 Meilen. Quer dazu sind es nicht einmal zehn. Gefällig eingebettet in diesen Seefahrtsschrebergarten sind Sandbänke und Unterwasserbrücken zwischen Inselchen und Felsen, die mit ablaufendem Wasser – ein Meter Tidenhub – den Wasserstand auf Nichtschwimmerniveau verringern.
Man ahnt bereits: Das Schiff der Wahl hat hier zwei Rümpfe. Und man sieht, dass dieses Revier für Meilenfresser ungeeignet ist. Ganz im Gegenteil empfiehlt sich die Abaco Sea als ideales Biotop für die Entdeckung der Langsamkeit.** Das ist ihre zweite Qualität.
Ohne Hast und Eile
Schon mit der Annäherung lässt sich das Gemüt auf den gelassenen Charakter der Abaco Sea stimmen. Die Anreise aus Europa dehnt die Zeit und dauert für Menschen ohne Hang zum Glücksspiel mindestens zwei Tage. Zwischen der planmäßigen Landung der zeitigsten Transatlantikflieger und dem Abflug des letzten Bahamahüpfers nach Abaco liegen nur wenig mehr als zwei Stunden – wer das bucht, kennt das US-Immigration-Monster nicht oder ist im Besitz der Hasenpfote des Gustav Gans.
Der Zwischenstopp in Miami lässt sich für eine Fahrt über die Florida Keys nutzen, was sehr harmonisch von der Gigantonomie der industriellen Passagierverarbeitung auf den kleinen Maßstab der Abaco Sea überleitet.