Höllenritt im Paradies
Himmlische Ruhe, wüstes Treiben. Milde Dünung, wilde Brecher. Sanfte Brise, harte Kante. Helles Morgenlicht, tiefschwarze Gewitter. Jürgen Preusser bekam bei einer Mallorca-Umrundung viele Gesichter der Insel zu sehen
Möglicherweise waren wir ein wenig nachlässig, denn so richtig schlau hatten wir uns nicht gemacht vor diesem Törn. Anfang September in den Balearen, ein Revier, das wir alle gut kennen. Was soll es da an bösen Überraschungen geben? Ein bisserl Mistral vielleicht, aber Starkwind mag diese Crew, die aus fünf Skippern besteht, sowieso viel lieber als Flaute. Start in Porto Colom, Kurs Südwest, knapp hundert Meilen nach Ibiza – das hätte unser erster Schlag werden sollen.
Basisleiter Oliver, ein cleverer Haudegen seiner Branche, zieht einen seiner Mundwinkel bis zum Ohrlapperl hinauf. Ich kenne seine Mimik von früheren Törns, er braucht daher gar nichts zu sagen. Der Blick auf die Wetterkarten macht klar: Wir werden weder Ibiza noch Formentera zu Gesicht bekommen. Im traumhaften Segelwind- und Schönwetterrevier der Balearen erwarten uns außergewöhnliche Verhältnisse. „Es ist verrückt, sowas kennen wir hier gar nicht“, wundert sich Oliver. Ebendiesen Satz hatte ich vor knapp einem Jahr aus dem Mund der Hafenmeisterin von Galaxidi im Golf von Patras gehört, ehe wir in die Fänge des Medicanes Sorbas gerieten. Seit 2015 keimt in mir der Verdacht, dass mich der Wettergott als Crashtest Dummy ausgewählt hat, obwohl ich bei Gott kein Klimawandel-Leugner bin.
Also Kursänderung: Akribisches Wetterrouting bei ein paar Tapas, strahlendem Sonnenschein und einer steifen Brise. Wir brauchen drei Stunden, um einen immer noch sehr ambitionierten Zeitplan zu entwerfen. Die Wetterradar-Karte erinnert mich an den Nena-Song 99 Luftballons: Alle orange, knallrot oder tief violett in unterschiedlichsten Größen. Die Konturen der Insel darunter sind kaum noch zu erkennen. Doch wenn wir alles richtig machen und die Zeitfenster zwischen den Luftballons nützen, könnten wir die Mallorca-Runde schaffen. 200 Meilen ohne attraktive Zwischenstationen im Naturschutzgebiet der Insel Cabrera oder in der lebenslustigen Metropole Palma. Kaffee statt Rioja, lange Nachdenkpause, dann kurzentschlossenes Handeln: Wir laufen noch heute aus, auch die ersten sieben Meilen nach Porto Cristo bringen uns dem Ziel näher. Dort haben wir nach einem Anruf beim Hafenmeister einen ganzen Steg für uns allein. Den nützen wir noch bei Tageslicht für ein paar Hafenmanöver-Übungen. Unsere Premiere mit einem Heckstrahlruder will schließlich gelernt sein. In Porto Pollença, besonders aber in Port de Sóller werden uns andere Bedingungen erwarten; dann sollte das Anlegen perfekt klappen.
Das malerische, in den Felsen gehauene Städtchen Porto Cristo, das über schöne Strände und Parks verfügt, ist der inzwischen bedeutungslose Handelshafen der Lederstadt Manacor im Herzen der Insel. Dort wurde Mallorcas berühmtester Sohn, Tennisstar Rafael Nadal, geboren. Rafas Yacht, die angeblich irgendwo hier liegt, finden wir nicht. Stattdessen werden wir Zeugen einer Hochzeit. Das Brautpaar flüchtet auf einer Llaüt, einem kleinen, besegelten Fischerboot aus Holz, vor der eigenen Hochzeitsgesellschaft auf der anderen Seite der Bucht, wo sich Dom und Altstadt befinden. Eine mallorquinische Tradition? Oder Angst vor der Schwiegermutter? Wir wissen es nicht.
Unser Frühstart am Sonntag verzögert sich wegen eines kleinen Missverständnisses mit dem Hafenmeister, doch der Wind meint es gut mit uns: Zwei lange Raumschot-Schläge führen uns vorbei am relativ flachen Punta de n’Amer mit seinem beeindruckenden Kastell, am Capdepera mit einem der vielen majestätischen Leuchttürme der Insel, am Cap de Freu, an dem langgezogene Wellen tosend brechen. Im Nebel der Gischt vor den zerklüftenden Felsen halsen wir Richtung Nordwesten, der Wind legt zu, wir surfen in der prallen Sonne mit bis zu elf Knoten dahin. Keiner kann sich vorstellen, was noch kommen wird.
Zwei Stunden früher als erwartet gehen wir auf einen geschrickten Am-Wind-Kurs. Vorbei am Cap de Menorca, wo ein paar Opti-Kinder Regatta spielen. Optimistisch holen wir vor Porto Pollença die Segel ein. Doch der Hafen ist voll wie im Hochsommer. „Die wollen alle ganz sicher liegen“, lässt uns der Mann an der Tankstelle, bei der wir um 16 Uhr kurz längsseits gehen, wissen. Wir verhandeln trotzdem um einen Liegeplatz. „Verpisst euch“, mischt sich ein fetter Deutscher mit nacktem Oberkörper in unser freundschaftliches Gespräch ein. Ja, es gibt durchaus vereinzelte Gründe, Mallorca nicht zu mögen. Doch ich habe wenig Skrupel, dem fleischgewordenen Ballermann ähnlich charmant die Meinung zu flüstern. Der Tankwart hält sich lachend die Ohren zu und verrät uns einen Geheimtipp: Ein stiller Ankerplatz in der Cala Pi de la Posada hinter der winzigen Ila de Formentor.
Im Windschatten des Eilands hält unser Anker auf Anhieb und wir genießen einen ruhigen Abend. Der romantische, tief violette Sonnenuntergang entschädigt uns reine Männercrew nur bedingt für die fix eingeplante legendäre Paella: Die Reservierung in der Bodega Can Ferrà im farbenfrohen Städtchen Porto Pollença muss ich zähneknirschend stornieren. Das überschwängliche Lob der Crew für meine Not-Spaghetti Carbonara halte ich für überzeichnet.
Ruhe vor dem Sturm
Um 8 Uhr zerrt die Morgenbrise am Anker. Wir nützen den Wind zur Rundung der atemberaubend steilen und schroffen Kaps Formentor und Catalunya. Zwei der am meisten fotografierten Naturwunder der Balearen. Kaum ein Boot ist unterwegs. Der Wind dreht erneut zu unseren Gunsten, bleibt allerdings sehr leicht. Trotzdem laufen wir schon um 13 Uhr in die berühmte Bucht Sa Calobra ein und ankern vor der Sehenswürdigkeit Nummer 1: Torrent de Pareis, die in den Felsen geschnittene Mündung eines Gebirgsbaches, der bei Schönwetter nur ein paar Brackwasser-Tümpel hinterlässt. Die Attraktion ist ein Fußgängertunnel zu den Restaurants in der Sa Calobra. Buskolonnen winden sich Tag für Tag über die steile Bergstraße zu diesem Hotspot. Doch pünktlich um 17 Uhr verschwinden alle Touristen. Jetzt brechen wir mit dem Schlauchboot zu einer Klettertour in den inzwischen menschenleeren Canyon auf, der für die Neuverfilmung eines Karl-May-Romans wie geschaffen zu sein scheint. Wie wird es hier wohl am nächsten Tag ausschauen, wenn die langsam aufziehenden Wolken Wassermassen genau über diesen Bergen abladen werden? Diverse Schilder warnen davor, dass man in dieser Schlucht bei Gewitter in Lebensgefahr geraten kann. Angeblich gibt es hier jährlich siebzig Rettungseinsätze.
In der Nacht dreht der Wind auf Nordwest. Also in die Richtung, in die wir demnächst segeln sollten. Er zerrt am Anker, versetzt unsere Kette. In der Finsternis wirken die Felsen plötzlich bedrohlich nahe. Anker auf um halb drei. In der Sa Calobra müssten wir besser liegen. Doch dort donnern Fallböen mit bis zu fünfzig Knoten über die Felsflanke. Wir entschließen uns zur Flucht. Auf dem Kreuzkurs sind es 16 Meilen bis Port de Sóller. Für zehn Meilen Luftlinie brauchen wir mehr als fünf Stunden.
Als wir gegen 9 Uhr einlaufen, ist der große Hafen bereits knallvoll.