Schamanen, Sherpas und Schießbudenfiguren
Segler sind berühmt dafür, Situationen blitzschnell richtig einzuschätzen. Ist das so?
Sie erinnern sich bestimmt an den knebelbärtigen Schamanen-Wikinger in der Pyjama-Hose vom Schrecklichen Sven mit Stierhörnern auf seiner bemalten Dumpfbirne. Ja, genau, an jenen Mann also, der vor 14 Monaten im Rudel mit anderen Schießbudenfiguren das Kapitol in Washington gestürmt hatte. Der wurde übrigens nicht versehentlich als 46. Präsident der Vereinigten Staaten angelobt. Er sitzt auch nicht im Gefängnis, wo er eindeutig hingehört. Nein, er ist Marinero in Athen!
Okay, Sie glauben mir nicht? Sie haben natürlich wie immer Recht. Wahr ist aber, dass ich um ein Haar aus meinen Segelstiefeln gekippt wäre, als sich sein offensichtlicher Doppelgänger höflich bei uns vorstellte, um die Bootsübernahme abzuwickeln. Wie so oft, wurde ich wieder von meinem Gewissen belehrt: Du sollst Menschen nicht nach dem Äußeren beurteilen! Ich habe jedenfalls selten eine kompetentere, freundlichere und effizientere Bootseinweisung erlebt.
Auf einem Nachbarboot machte inzwischen eine junge Frau ihren Job für dieselbe Charter-Firma. Nachdem sie die Checkliste gewissenhaft abgearbeitet hatte, fragte der (alte weiße) Skipper zentralalpiner Herkunft in erbrochenem Englisch: „And when comes se man for se Tscheck out?“ Verblüffender Weise erstarrte die junge Frau nicht in Fassungslosigkeit. Ähnlich intelligenzbereinigte Bemerkungen hatte sie offenbar schon ein paar Mal überhören müssen.
Die Anekdote erinnerte mich an einen Vorfall in einem Wiener Baumarkt: Ich begleite eine Slowenin, die seit Jahren als Berufsskipperin arbeitet. Und zwar als Träger, weil Vesna schweres Werkzeug für eine Bootsreparatur kaufen muss. Mit leichtem Akzent stellt Vesna einem Baumarkt-Angestellten die simple Frage: „Wo ist Flex mit ganz große Schleifscheibe?“ Für einige Sekunden hält der Mann den Kopf schief. So als wolle er sein Gehirn zusammenrinnen lassen. Dann wendet er sich von Vesna ab und mir zu: „Für was du brauchen das?“ Er bedient sich dabei jener infantilen Hochdeutsch-Imitation, die so mancher Polier anwendet, um einen soeben aus Nordmazedonien eingereisten Bau-Hackler einzuschulen. Ich antworte: „Tschuldigung, nicht ich habe Sie etwas gefragt, sondern die junge Dame. Ich bin nur der Sherpa.“ Der Verkäufer ist verwirrt: „Jo, oba … de Frau … wissns eh …“ Sein Gestammel verrät, dass er weder mit Frauen noch mit der Berufsbezeichnung Sherpa auch nur im Entferntesten etwas anfangen kann. Trotz eines veritablen Lachkrampfs hat Vesna inzwischen fast alles gefunden und in den Einkaufswagen gelegt.
Zugegeben, die Story hat schon zwei Jahrzehnte auf dem Buckel. Ich bin sicher, dass Baumarkt-Mitarbeiter inzwischen besser geschult und von Grund auf intelligenter sind als der damalige Prototyp. Doch soeben wird dieser Vorfall hier in Athen vor meinen Augen getoppt: Der gar nicht mal so sympathische Nachbar-Skipper sieht sich plötzlich mangels männlicher Kompetenz gezwungen, der jungen Frau alle Schäden zu gestehen, die er während der nur einwöchigen Umrundung einer vorgelagerten Insel angerichtet hat.
Einer dieser Schäden betrifft den Windmesser an der Mastspitze. Mit einem Pfiff beordert sie den Schamanen von unserem Schiff zu sich. Er möge sie doch bitte sichern. Sie schlüpft in den Bootsmannstuhl und turnt geschickt wie ein Schimpanse den Mast hinauf. Innerhalb von Sekunden ist die Kleinigkeit behoben. Wieder auf Seehöhe erklärt sie dem Skipper in ziemlich infantil klingendem Englisch, wie er den Schaden durch richtiges Handling verhindern hätte können. Schließlich sagt sie: „And now you can close your mouth, Sir.“ [„Und jetzt können Sie Ihren Mund schließen, mein Herr.“]
Plötzlich ist der Skipper streichelweich und wendet sich voll Anerkennung unserem Wikinger zu: „You have a very good helper here!“ Der junge Grieche lächelt mitleidig und antwortet fehlerfrei auf Deutsch: „Ja, danke. Aber Elara ist nicht meine Helferin. Sie ist mein Boss!“