Das fröhliche Exil von Gros Islet: Der erste Wanderbrief 2010
Wenn man über Wochen auf einem umzäunten Bootsstellplatz vor sich holzwurmt, ist der Lagerkoller nur eine Frage der Zeit. Uns erwischte es zu Sylvester. Den 31. hatten wir noch in Ehren rübergebogen, geparkt in einer kleinen, ausschließlich von Einheimischen frequentierten Bar, die über ein Dinghydock in der Einfahrt von Rodney Bay erreichbar ist. Feuerwerk, Rum Punch mit mächtigem Bizepts, jeder zweite Drink gratis – so lässt sichs doch eigentlich aushalten, oder?
Aber am 1. Jänner waren alle Rolladen in Rodney herunten, die Gehsteige waren hochgeklappt, in der Marina sagten sich die Füchse gute Nacht, und am Boatyard waren der Raini und ich die einzigen lebenden Wesen, wenn man mal von den drei rachitischen Inventarhunden absieht.
Es war der Reini, der mich dann sanft, aber nachdrücklich aus dem Tor geschubst hat. Weil ich hätte resigniert. Aber er hat sich glatt eingebildet, irgendwo muss irgendwas offen sein, ganz felsenfest sicher. \u00A0Und falls wer glaubt, genau so war es auch… - naja, genau so war es auch.
Vorm Boatyard trafen wir einen Kauz, und er nahm uns unter die Fittiche, und als wir uns bekannt machten, sagte er, sein Name sei Artiste.
Artiste ist vermutlich geborener Franzose, sprich holprig Englisch, fließend Creole, ganz gut Spanisch, bissl Italienisch und offenbar noch ein paar Sprachen aus Gegenden, die \u00A0Du und ich nur vom Hörensagen kennen. \u00A0Nach eigenen Angaben ist er 71. Ausschauen tut er wie fünfzig Plus und in einer milde einsturzgefährdeten Eingeborenenhütte in Gros Islet schreibt er an seinen Memoiren.
Artiste führt uns zum freitäglichen Straßenfest von Gros Islet und wir sind gerettet: Auf der zentralen Straßenkreuzung des Dorfes röhrt progressiver Reggae aus mannshohen Lautsprechern, runherum brutzeln frisch verstorbene Nutztiere auf selbst geschweißten Holzkohlengrillern, und ganz gleich ob nachtschwarz oder kasweiß – hier und heute Abend sind alle Menschen Brüder.
Artiste lebt seit 20 Jahren hier im Dorf, sagt er. Und er erzählt uns, wie es kam, dass knapp 100 Schritte vom fashionablen Rodney Bay ein karibisches Dorf in einer Zeitkapsel überlebt hat: Gegründet wurde die Ansiedlung zur napoleonischen Zeit, nämlich als die kreolische Franzosenkaiserin Josephine beschloss, die in ihrer Heimat Martinique von den Jakobinern abgeschaffte Sklaverei wieder einzuführen. Damals schwappte eine veritable Flüchtlingswelle über die St. Lucia-Strasse, und die Exilanten aus Martinique ließen sich am Rand der Rodney Bay nieder, bauten Holzhütten, nannten das Dorf Gros Islet\u00A0und lebten fortan frei und in Frieden in St. Lucia.
Dann kamen die Yachten und die Investoren und die Marina in Rodney Bay – und für Gros Islet war das keine gute Nachricht: Die Brücke, die das Dorf mit dem Rest von St. Lucia verband, wurde abgerissen. Die ersatzweise angelegte neue Straße machte einen Bogen um Gros Islet – und das Dorf verkam zum Ghetto, explodierenden Drogenkonsum und ausufernde Kriminalität inklusive. Und für den Abriss der mittlerweile 150 Jahre alten Hütten und einen schmucken Neubau in zeitgemäßem, gesichtslosem Beton hatte einfach niemand das Geld.
Und so kam es, dass Gros Islet, in den letzten Jahren von einem klugen und tatkräftigen Bürgermeister durch Initiativen wie das freitägliche Straßenfest sozial saniert, über weite Strecken noch heute aussieht wie die Karibik, die wir aus alten Filmen kennen.
So erzählt Artiste und vergisst nicht, zu sagen, dass Gros Islet gefährlich ist: „It is dangerous, my friend: You go there, you fall in love with it, and you stay and you never go back. Verrry dangerous!”
Überm dritten Bier erzählt Artiste dann, was er getrieben hat, bevor er in Gros Islet sesshaft wurde: Vom Horror des Algerienkrieges, den er als blutjunger Bursch mitgemacht hat, von Arabien, Guatemala, Kanada, wo seine Kinder leben… - „It was simple: I went to all the places where no one would go, did all the jobs nobody wanted, and met the most wonderful people everywhere in the world.”
Es war der unterhaltsamste Abend, seit wir hier angekommen sind. Und wenn Artiste seine Memoiren herausbringt, dürften sie Pflichtlektüre sein. Merci, Artiste! Its good to know \u00A0you!