Auferstehung einer Schönheit
Im Herbst 2017 wurden die British Virgin Islands vom Horror-Hurrikan Irma schwer verwüstet. Hat sich das karibische Segelrevier von dieser Naturkatastrophe wieder erholt? Und wie weit sind die Aufräumarbeiten gediehen?
Auf Tortola hat jeder eine Geschichte zu Irma zu erzählen. Die zackige Rezeptionistin im Sebastian’s On The Beach, der grauhaarige Taxi-Fahrer, der uns vom Flughafen zur Marina bringt, die beleibte Mama, die mit bis oben hin vollbeladenen Einkaufswagen an der Supermarktkassa steht. Und in jeder Geschichte kommt irgendwann der Satz vor: „Und dann ist das Dach weggeflogen.“ Deshalb gibt es auf der rund 55 Quadratmeter großen Insel nur zwei Arten von Häusern. Solche mit nagelneuem Dach. Und solche ohne Dach.
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Die British Virgin Islands, zu denen Tortola zählt, sind ein Traumrevier. Beständiger Passat sorgt über das ganze Jahr hinweg für wunderbare Segelbedingungen ohne nennenswerten Tidenhub, das Klima ist mit trockenen Temperaturen nahe 30° und leichter nächtlicher Abkühlung ideal, das klare Wasser zwischen Tiefblau und Türkis changierend, die maritime Infrastruktur perfekt. Es gibt jede Menge Yachthäfen, Bojenfelder, Bars und Restaurants, die Distanzen zwischen den Zielen sind gering, die navigatorischen Herausforderungen überschaubar.
US-Amerikaner und Briten waren schon länger verrückt nach der Inselgruppe im Nordbogen der Kleinen Antillen, seit der Jahrtausendwende boomte die Destination auch in Europa. Die BVI standen in jedem Charterkatalog im Programm, die zur Verfügung stehende Flotte war die größte der Karibik, das Business brummte.
Und dann kam Irma. Am 6. September 2017 wurden die BVI vom schlimmsten Hurrikan aller Zeiten getroffen. Rekordträchtig war nicht nur die Spitzengeschwindigkeit von 285 km/h, sondern vor allem die ungewöhnlich lange Dauer von 37 Stunden. Als Irma mit den BVI fertig war, sahen die am stärksten betroffenen Inseln Tortola, Virgin Gorda und Jost Van Dyke wie nach einem Atomkrieg aus. Gebäude waren demoliert, Straßen devastiert, Palmen geknickt oder entwurzelt, Bäume und Sträucher entlaubt; aus dem saftigen Grün der Hügel war buchstäblich über Nacht tristes Braun geworden. Der Gesamtschaden belief sich auf geschätzte 3,6 Milliarden US-Dollar und es sollte rund ein halbes Jahr dauern, bis im ganzen Land die Stromversorgung wiederhergestellt war.
Die Tourismus-Branche, die bis zu diesem Zeitpunkt den Löwenanteil des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet und rund 80 % der Arbeitsplätze gestellt hatte, lag komplett am Boden und stand nur taumelnd wieder auf. Trotz großer Anstrengungen – so wurden etwa rund 3.000 demolierte Fahrzeuge sowie mehr als 12.000 Tonnen Schrott gesammelt, auf Frachtkähne geladen und von den Inseln gebracht – waren im Sommer 2018 erst 45 der ursprünglich 300 Hotels der BVI wieder in Betrieb.
Wesentlich schneller erholte sich die Charter-Szene. Obwohl etwa 80 % der in den BVI stationierten Yachten entweder gesunken, zerstört oder demoliert waren und allerorts Wracks an Land lagen, konnten die Branchenriesen Sunsail und The Moorings bereits Anfang Dezember 2017, also nur drei Monate nach Irma, die Wiedereröffnung ihrer Basis auf Tortola bekannt geben. Die Unternehmen, die beide zur Travelopia-Gruppe gehören, hatten mehr als ein Drittel ihrer Flotte als Totalverlust abschreiben müssen, aber viel Kraft in die Reparatur der beschädigten Modelle sowie viel Geld in den Erwerb neuer Yachten gesteckt. Und so schipperten bereits Anfang 2018 wieder erste Chartergäste durch den Tropen-Archipel.
Wir hatten die BVI Anfang April 2017 als fantastisches Segelrevier kennen gelernt und umstandslos unser Herz daran verloren. Genau zwei Jahre später unternahmen wir einen Erkundungstörn, um den Post-Hurrikan-Zustand der BVI mit eigenen Augen zu prüfen und einen Vergleich zu früher zu ziehen. Würden sich uns die von Irma geschlagenen Wunden als unsichtbar verheilt, vernarbt oder immer noch schwärend präsentieren? Auf der Suche nach einer Antwort machten wir uns an Bord einer Sunsail 41 auf den Weg.
Aufbruchsstimmung
Als wäre nie etwas gewesen, trägt uns der Wind mit satten 20 Knoten hurtig über die azurblaue See. Wir haben ein Reff eingebunden, die Steuerfrau steht barfuß am Rad und grinst bis über beide Ohren, auch beim Rest der Crew ist die Laune angesichts des ungetrübten Segelvergnügens prächtig. Übernommen haben wir unser Schiff auf der Hauptinsel Tortola, genauer gesagt in der Marina Wickhams Cay II, die sich betriebsam und aufgeräumt präsentierte. Sunsail betreibt im nun überdachten Eingangsbereich ein schmuckes Büro mit übersichtlicher Rezeption, die neuen Sanitärräumlichkeiten sind geradezu elegant, die Steganlagen dicht besetzt. Der nahe gelegene große Supermarkt Rite Way, in dem wir den ersten Einkauf erledigt haben, erwies sich als bestens sortiert; alles fein.
Unser erstes Ziel ist die Trellis Bay am Ostzipfel von Tortola. In deren unmittelbarer Nähe befindet sich der Flughafen, dort wollen wir zwei verspätet eintrudelnde Crewmitglieder abholen. Wir erinnern uns gut an die lebendige Künstlerkolonie und die bunten Hütten, die 2017 das Ufer säumten, und sind gespannt, welches Bild sich uns jetzt bieten wird. Ein intaktes Bojenfeld ist jedenfalls vorhanden, von Yachties gut frequentiert, aber nicht überbelegt. Mit dem Dingi setzen wir an Land über und freuen uns darüber, dass der große Schau-Ofen, in dem Keramik gebrannt wurde, wieder in Betrieb ist, gleiches gilt für einige Läden und Werkstätten sowie einen kleinen Shop, in dem man Lebensmittel und Getränke kaufen kann.