B-Seite mit Hitpotenzial
Venedig hat mehr als Markusplatz und Rialtobrücke zu bieten. Wer keine Lust auf Trubel hat, sollte die nördliche Lagune erkunden – dort finden sich Ruhe und Natur pur, aber auch kulinarische und kulturelle Highlights
Nicht mal drei Kilometer bräuchte eine Taube fliegen, um vom Markusplatz, den sie sich mit tausenden anderen Tauben und Touristen aus aller Herren Länder teilen muss, in ein unberührtes Naturparadies ohne Konkurrenz zu gelangen. Auf der Insel Certosa gibt es keine Tauben, keine Touristen und auch keine Sehenswürdigkeiten. Ein paar verfallene Gemäuer, ein einsamer Backstein-Schlot, üppige Vegetation, Kaninchen, die über die grünen Wiesen hoppeln – das war’s. Der Kontrast zum quirligen Zentrum der Lagunenstadt könnte nicht größer sein.
Ich habe Venedig schon zigmal auf eigenem Kiel besucht, kenne Dogenpalast und Rialtobrücke bei Schneefall wie brütender Hitze. In meiner Kindheit war Venedig entweder als Highlight zu Saisonbeginn oder als krönender Abschluss fixer Bestandteil der familiären Törnplanung, jeder Besuch ein Erlebnis, aber auch mit Stress verbunden. So waren wir stets froh, den Trubel wieder im Kielwasser zurücklassen zu können.
Und dann erzählt mir Alberto Sonino, der auf Certosa eine Marina hochgezogen hat, auf der Boot Tulln von seinem Idyll im Grünen und einem mir unbekannten Venedig abseits der Touristentrampelpfade. Das klingt zu gut, um wahr zu sein. Also mache ich eine Probe aufs Exempel: Wie in guten alten Zeiten laufe ich mit dem Boot meiner Eltern zur Hauptreisezeit, genau zur Ferragosto, in Venedig ein.
Oase der Stille
Die Marina Vento di Venezia liegt malerisch eingebettet zwischen einer Sumpflandschaft, an der jeder Ornithologe Freude hätte, und einem grünen Eiland, das komplett verschlafen, ja verwunschen wirkt. Der perfekte Standort für eine Burnout-Klinik!
Certosa beherbergte einst ein Kloster, später eine Militärbasis und ein Munitionsdepot. Jetzt befinden sich dort Schwimmstege mit 320 Liegeplätzen für Yachten bis 60 m Länge, einfache Sanitäranlagen, ein kleines Hotel, Café, Verwaltungs- und Werftgebäude. Nur zehn Prozent der parkähnlichen, 24 Hektar großen Insel sind verbaut. Am grünen Charakter der Insel soll sich in Zukunft nichts ändern – auch wenn der ehemalige Tornado-Segler Sonino Ausbaupläne hat. So sollen über den Winter 2018/19 ein paar Apartmenthäuschen, neue Sanitäranlagen, ein Restaurant und ein Swimmingpool dazu kommen.
Gefühlt liegen zwischen Markusplatz und Certosa mehrere Galaxien, tatsächlich sind es mit dem Vaporetto nur zehn Minuten bis ins Zentrum von Venedig. Wir beschließen aber mit dem Wasserbus in die entgegengesetzte Richtung zu fahren. Je näher wir unserer Station in Cannareggio kommen, desto eintöniger wird das Sprachengewirr der Passagiere, bis wir irgendwann nur noch Italienisch hören. Die Station "Madonna dell'Orto" ist das Tor zum "richtigen", authentischen Venedig, in das sich kaum ein Tourist verirrt. Hier hat man die engen Gässchen mit ihren abgetretenen Pflastersteinen, die gepflegten Plätze, die von Booten gesäumten Kanäle und prunkvoll verzierten Brücken ganz für sich allein. In der Osteria L'Orto dei Mori, die im ehemaligen Wohnhaus des Malers Tintoretto untergebracht ist, muss man dennoch einen Tisch reservieren. Dass es hier ganz ausgezeichnete venezianische Spezialitäten gibt, hat sich nicht nur zu uns herumgesprochen. Mit vollen Bäuchen lassen wir den Abend mit einem Gläschen Spritz ausklingen. Und zwar so, wie es sich gehört: bei einer Bretterbude gekauft, auf Plastiksesseln direkt neben dem Kanal genossen und von schnatternden Venezianern umgeben.
Qual der Wahl
Nach diesem Besuch von Venedigs Rückseite empfiehlt uns der gebürtige Venezianer Sonino einen Abstecher in die Lagune, die aus rund 80 Inseln besteht. Die Muschelinsel Pellestrina, die Geisterinsel Poveglia, die Festungsinsel San't Andrea, die Pestinsel Lazzaretto Vecchio – um Soninos Empfehlungen zu folgen, bräuchten wir allerdings ein paar Wochen, nicht bloß ein Wochenende. Wir entschließen uns nur die nördliche Lagune bis Torcello zu erkunden. Ab Torcello geht die laguna viva dann in die laguna morta über, jenem Teil der Lagune, der großteils aus Süßwasser besteht und dem Gezeitenwechsel nicht unterliegt. Laut Sonino ist das Befahren der Lagune auch mit 1,85 m Tiefgang problemlos möglich – zumindest, wenn wir uns an die Carta della Laguna di Venezia (auch als App für € 7,56 im Google Play Store bzw. 8,99 auf Itunes erhältlich) halten und nur bei Hochwasser unterwegs sind. Sein Wort in Gottes Ohr!