Im Süden, am Jahresrand
Die Türkei hat nichts von ihrem Reiz verloren, vor allem in der Nebensaison lässt sich hier Natur und Gastfreundschaft auf erquickende Art erleben. Davon durfte sich Werner Meisinger bei einem Urlaubstörn Ende Oktober überzeugen
„Alle weht der Wind nach Osten, nach Kas, in die Pferdekopfbucht, in die Drachenbucht, sagt Judith, die das Office von Pitter-Yachting in Göcek schaukelt. Dabei wäre der Westen auch sehr reizvoll, sagt sie, die Flussfahrt auf dem Dalyan, der Golf von Marmaris …
Also Kurs westwärts, gegen die Zugrichtung.
Als naturfreundlicher Segler tut man sich damit auf den ersten Meilen schwer, denn man muss erstmal den Golf von Fethiye verlassen. Der entwickelt aber mit seinen hundert Buchten, üppig grünen Wäldern, vielfarbigen Felsen und den unauffälligen Kerben in der Küstenlinie, in denen man auch ganz allein sein kann, einen erheblichen Magnetismus. Manche Besucher verlassen dieses kleine Meer eine ganze Charterwoche nicht, weil alles da ist, was Freunde der Ruhe und Gemütlichkeit schätzen und begehren: Glasklares Wasser, gute Ankergründe, tadellose Restaurants.
Aber unsereiner muss raus aus der Geborgenheit und bis zur Selbstausbeutung erforschen, was in einem Fahrtgebiet geboten wird. Richtig hart ist dieser Job an der Südküste der Türkei eher selten. Die Winde verhalten sich moderat bis überhaupt nicht. Aber in der Hauptsaison kann es irre heiß sein, deshalb segeln wir an den Saisonrändern. Nicht nur hier und deshalb muss man randständiges Segeln empfehlen. Es ist auch gut für die Wirtschaft und die Menschheit ganz allgemein. Der Zwang zur Hauptsaison kann natürlich von schulpflichtigen Kindern ausgehen. Im Sinne der Wirtschaftsbelebung und Herzensbildung der Kleinen sollte man deshalb einen frei disponierbaren Ferienanspruch einführen. Was versäumen die Kids denn schon, wenn sie zwei Wochen im Frühling und Herbst den Bildungsinstituten fern bleiben? Vielleicht das linkshändige Quadratwurzelziehen oder den siebzehnten Punischen Krieg. Das ist im Vergleich zum Gewinn unvergänglicher Eindrücke in entspannter Gangart wenig. Kein vergrämender Trubel an den antiken Steinen, kein Geschubse und Geschiebe beim Stadtspaziergang. Das macht die Herzen der Kleinen offen für weitere Erfahrungen, macht sie zu entspannteren Weltbürgern, besseren Menschen gar. Also Urlaubsanspruch für Schüler! Und segeln in der Nebensaison.
Wir finden ein malerisches Lokal in der Bucht von Ekincik. Malerisch kann hier auch heißen: Neonreklame und Plastikdekorationen, denn der Stil des Ostens ist generell plakativer als in den vom Wohlstand auf elegant gebügelten Ländern. Vor dem Hotel ein schwarzer Sandstrand, hinter dem Hotel der große Baustopp. Der Stopp besteht seit 20 Jahren. Es war eine große Idee, die über hundert Ferienwohnungen in solider Ziegelbauweise hervorgebracht hat. Allerdings nur die Gerippe. Dann wanderte das Projekt von der Hand des Investors in die Hände der Banken und von dort woanders hin. In der Besitzerkette fand sich bis heute keiner, der sich zur Vollendung des Werks aufraffen konnte.
So muss der Tourismus in dieser Bucht weiter ohne Grand Ressort auskommen. Den Liebreiz des Geländes, den Schatten des Waldes aus Föhren und Eukalyptus nutzen Low-cost-Besucher, die sich unweit des Strandes Blechcontainer bewohnbar gemacht oder Lieferwägen aufgebockt haben, um darin und auf Campingmöbeln davor schöne Tage zu verbringen.
Es sind schwierige Zeiten, sagt der Wirt des Restaurants Inceler. Der Bootstourismus ist nicht mehr wie früher. Viele Vercharterer haben ihre Yachten abgezogen. Wegen „der Situation“. Gemeint ist die politische, doch das Wort Politik fällt hier selten. Politik ist anderswo. Hier ist und war stets alles stabil. Im Sommer herrscht noch Betrieb, aber die Nebensaison ist schwierig. Obwohl in der Bucht für Gäste alles bestens vorbereitet ist. In wirtschaftlich ergiebigeren Zeiten wurde eine öffentliche Marina gebaut. Mit Strom, Wasser, tadellosen Sanitäranlagen und einem Pier, an dem Dutzende Ausflugsboote anlegen können, um Touristen den Fluss hinauf zu den lykischen Gräbern bei Dalyan zu bringen. In der Nebensaison kann man sich hier einen Platz aussuchen und kostenlos bleiben, so lang man will.
Fluss und Fels
Die Gräber darf man nicht auslassen. Nicht nur, weil sie als Beispiele hervorragender Steinmetzkunst sehenswert sind. Auch, weil die Zufahrt in ein bezauberndes Naturambiente führt. Aus der Bucht geht es an der höhlenreichen Küste entlang zur Mündung des Dalyan-Flusses. Es handelt sich um eine besondere Ecke der Küste und nicht nur der anatolischen. Felsen, Sandstrände und Marschland fügen sich hier zusammen und bilden eine naturkundlich höchst interessante Welt. Belebt wird sie von allerlei seltsamen Tieren und am augenfälligsten von Menschen, die in großen Fährschiffen an einen goldfarbenen Strand geliefert werden. Dort dürfen sie von 8 bis 20 Uhr bleiben. Für die Nachtstunden haben die Behörden Ruhe und Dunkelheit verordnet. Zum Wohl der Karettschildkröten, die diesen Strand seit unzähligen Jahren ansteuern, um Eier abzulegen und den Fluss hinauf zu rudern. Schildkröten navigieren unter anderem nach dem Mondlicht. Nächtliche Strandpartys und Hotelbeleuchtungen würden sie irritieren.
Der Fluss bildet hier ein Labyrinth aus Schilfinseln und mehr oder weniger fahrbaren Wasserarmen. Für die Befahrung liegen am besagten Goldstrand und in Ekincik Dutzende Barkassen bereit, die meisten davon mit bequem gepolsterten Bänken, Teppichen und Erfrischungen ausgestattet, ausnahmslos alle mit imposanten Nationalflaggen am Heck. Mit diesen Gefährten geht es in eine Wunderwelt der Natur und Geschichte. Der Fahrweg windet sich mit vielen Abzweigungen durch den Schilfdschungel. Dann wird das Netz aus Wasserläufen zum Fluss. An seinen Ufern stehen Restaurants, Ressorts, Hotels und Feriensiedlungen. Der Tagesgast kann wählen, unter welchem Blütenhimmel er seinen Tee oder seine Blauen Krabben – auch Bewohner dieses Mikrokosmos – nimmt. Wer Glück hat oder über die entsprechende Technik verfügt, kann auch Schildkröten beobachten. Die Technik besteht im Anfüttern der zahllosen kleinen Fische durch reichliche Gaben von Brot oder (wirksamer, aber teurer) indem man ein wenig von seiner Krabben- oder Fischspeise ins Wasser wirft. Animiert vom Kleinfischgetümmel zeigen sich dann oft auch die Schildkröten. Fast einen Meter lang und 70 kg schwer können die Paddler werden, das macht was her in einem kleinen Fluss.
Auf der Höhe von Dalyan, früher direkt am Meer, heute acht Kilometer landeinwärts, haben Lykier vor etwa 2.400 Jahren Gräber in die senkrechte Felswand gehauen. Vom Schiff aus lassen sie sich gut besichtigen: Rechts die Monumente für die Herrscher, in der Mitte bescheidener ausgeführt für begüterte Bürger, links eher schlichte für solche, die sich weniger leisten konnten. Begraben wurde hier aber niemand, die Steinmetzkunst – in etwa hundert Jahren am baumelnden Seil verfertigt – offenbar nur aus Selbstzweck betrieben.
Für mehr Nutzwert wurden die Steine im nahe liegenden Kaunos bearbeitet. Hier florierte in altgriechischen und römischen Zeiten eine Metropole der Region. Über das Theater, die Thermen und den Tempel hinaus schweift der Blick über einen kleinen See, der in antiker Zeit den Hafen bildete, über trockene Ziegenweiden, das Marschland und die See. Im Hochsommer wird man den Blick nur kurz schweifen lassen, weil in dieser Jahreszeit hier gern die Hitze brütet und sich tausende Besucher über den Hügel schieben. In der Nebensaison aber ist alles mild.
Heftig umworben
In Tourismusmetropolen wie Marmaris oder Fethiye wird der Druck auf den Gast so lang es geht hoch gehalten. Die Pflege der legendären türkischen Gastfreundschaft hat ganze Areale der Stadt denaturiert. In den Alleen aus Restaurants, Bistros, Bars, Cafés, Pubs und Discos lauern Kohorten von Keilern, um mit Sprüchen in allen nützlichen Sprachen Passanten vom Weg ab- und auf ihre Tische hinzuziehen.