Multikulti
Wellcraft 355. Amerikanische, französische, italienische und polnische Einflüsse machen das Wasser-SUV zu einer im besten Sinne abenteuerlichen Mischung
In Europa ist die seit 60 Jahren bestehende Marke Wellcraft relativ unbekannt, in ihrem Herkunftsland, den USA, hingegen absoluter Kult. Wesentlichen Beitrag dazu leistete die TV-Serie Miami Vice aus den 1980er Jahren, in der Sonny Crocket mit einer Wellcraft Scarab 38 KV auf Gangsterjagd ging. Mit diesem Geschoss hat der jüngste Wurf der US-Werft wenig zu tun und auch von der aktuellen Produktpalette, die aus 20 bis 35 Fuß langen Mittelkonsolenbooten für Fischer besteht, hebt sich die neue Wellcraft 355 deutlich ab.
Seit 2015 befindet sich die in Sarasota, Florida, beheimatete Werft im Besitz der Beneteau Gruppe und damit des Weltmarktführers. „Mit der Wellcraft 355 wollen wir der Marke eine internationale Dimension verleihen“, benennt Produktmanager Martin Meyer, der für die Entwicklung dieses Modells verantwortlich war, das angepeilte Ziel. Gleichzeitig sollte jedoch die Identität der Marke nicht verloren gehen – keine einfache Aufgabenstellung. Da sich der Weekender im Commuter-Stil aber sowohl jenseits als auch diesseits des großen Teichs gut verkauft, dürfte die Strategie aufgegangen sein.
„Die Kunden wollen eine Art Jeep Wrangler für das Wasser haben“, ist Meyer überzeugt, „also ein Boot mit hoher Offshore-Performance, mit dem man möglichst lange und auch bei rauen Bedingungen unterwegs sein kann. Genau dafür ist die Wellcraft 355 gemacht.“ An der Konstruktion des Wasser-SUVs waren mehrere renommierte Designer beteiligt: der ebenfalls in Sarasota stationierte Yachtdesigner Michael Peters, Camillo Garroni, der langjährige Hausdesigner von Prestige, sowie der polnische Konstrukteur Pawel Denert, der seit 2009 für die Merry Fisher Modellreihe zuständig ist.
Spaß, Spaß, Spaß
Die zur Gänze in Polen gebaute Wellcraft 355 verfügt über einen Rumpf mit tiefem V, der gut durch die Wellen schneidet. Auf die vor allem bei skandinavischen Booten beliebten Stufen wurde verzichtet, da Stufenrümpfe laut Meyer erst ab einer Geschwindigkeit von mehr als 30 Knoten effizient sind. Standardmäßig gibt es als Motorisierung drei Außenborder von Mercury, die die Wellcraft mit insgesamt 900 PS auf Touren bringen, auf unserem Testboot, der Baunummer 2, waren aber drei Stück der als Option erhältlichen 300 PS starken Yamaha Motoren installiert. Unabhängig davon, für welche Außenborder-Variante man sich entscheidet, gehören Joystick-Steuerung sowie Bugstrahlruder zur Standard-Ausstattung.
Am Steuerstand finden sich zwei große Multifunktionsdisplays, ein leicht nach Steuerbord versetztes Steuerrad sowie Getränkehalter. Neben dem Steuerstand sorgt eine Schiebetür nicht nur für frische Luft, sondern ermöglicht auch einen schnellen und einfachen Zugang zum Seitendeck. Die beiden verstellbaren Schalensitze geben guten Halt, wobei man ein Kaliber wie die Wellcraft 355 eigentlich am liebsten im Stehen steuert. Die Beschleunigung erfolgt kraftvoll. Bei 4.000 Umdrehungen wird die Gleitschwelle überschritten, der Bug steigt zwar kurz an, die Sicht bleibt aber uneingeschränkt erhalten. Ehe man sich’s versieht, ist eine Geschwindigkeit von mehr als 40 Knoten erreicht, wobei man den Speed aufgrund der minimalen Geräuschkulisse kaum wahrnimmt. Der Rumpf ist dank Vakuum-Infusionsverfahren sehr robust und steif – da knirscht und knarzt gar nichts.
Erst wenn man beherzt am sehr leichtgängigen Steuerrad dreht, kommen Fliehkräfte ins Spiel und das hohe Tempo wird spürbar. Die Wellcraft legt sich kontrolliert zur Seite, wobei der Rumpf weder einhakt noch ausbricht und die Propeller stetig ohne Luftschnappen anschieben. Lediglich für die Sicht auf die Innenseite muss man sich kurzfristig ein wenig ducken. Wer noch mehr Sportboot-Gefühl wünscht, öffnet per Knopfdruck die beiden Glasluken über dem Steuerstand, lässt sich den Fahrtwind um die Nase blasen und die Sonne ins Gesicht scheinen. Dank Rumpfform und Kampfgewicht ist das Überwinden von Wellen kein Krampf, sondern Vergnügen. Selbst eineinhalb Meter hohe Exemplare stellen kein Problem dar. Fährt man bergab, taucht die Wellcraft ein wie in Watte, gegenan benötigt es ein wenig Überwindung. Ab 30 Knoten sind die Sprünge mitunter beachtlich und das Landen gestaltet sich so knackig, dass man sich nicht sicher ist, ob man noch Vollgas geben kann. Man kann: Tatsächlich scheint sich die Yacht bei 40 Knoten sogar wohler zu fühlen als in deutlich langsamerer Gangart und es stellt sich eine Art sportlicher Fahrkomfort ein.
Grenzenlose Abenteuer
Am Heck befindet sich serienmäßig nur ein Wassersport-Bügel aus Edelstahl über den Motoren, in den auch ein Fender- oder Tauchtankhalter integriert ist, ansonsten gibt es jede Menge Freiraum. Optional kann man die Plicht mit einer Dreier-Sitzbank sowie einer Wetbar ausstatten. Mit einer Persenning lässt sich das Cockpit vollständig schließen und damit ganzjahrestauglich machen. An den beiden Seitenausstiegen kann man eine optionale Badeleiter einhängen, über die sich Taucher besonders freuen dürften.