Barbossa* und der Giftzwerg
Sommerferien IV.** Es ist an der Zeit einen der größten Irrtümer der Menschheitsgeschichte aufzuklären: Kinder sind NICHT lieb
Jeder liebt Kinder. Zumindest die eigenen. Manchmal. Aber lieb sind Kinder deshalb noch lange nicht. Schon gar nicht auf einem Segelboot. Und erst recht nicht im Rudel. Kinder sind nicht automatisch lieb, nur weil sie Kinder sind. Oft erreichen sie gerade einmal die Sympathiewerte jenes Wunschkindes, das Jahr für Jahr in der Vorweihnachtszeit hysterisch „Gäschänke! Gäschänke!“ aus dem Radiolautsprecher trompetet. Um bei der Werbung zu bleiben: An normalen Bordtagen pendeln sich besagte Sympathiewerte irgendwo zwischen „Schärdinand“ und „Lutzfamilie“ ein.
Erinnern Sie sich noch an die Fußball-WM 2010 in Südafrika? Zwei Fragen:
Erstens, wer wurde Weltmeister? Nein, nicht die Deutschen, sondern Spanien.
Zweitens, was hat sie am meisten gestört? Nein, nicht die Deutschen, sondern die Plastiktrichter namens Vuvuzela.
Unsere Vuvuzela hieß Markus und war seinerzeit vier Jahre alt. Wie das südafrikanische Lärminstrument führte auch Markus mittels Kreischen eine Art Löschlauf des musikalischen Gehörs und des Erholungswertes durch. Gekreischt wurde aus unterschiedlichen Anlässen: An manchen Tagen wollte der Kleine Markus, an anderen Marko genannt werden. Eine falsche Anrede führte zu einem Brüllkrampf mit einem Schalldruckpegel von 120 Dezibel.
Dass seine Mutter für ihn heimlich ein Marko- oder Markus-Spezialmenü zubereitete um ihm nicht den allgemeinen Crew-Fraß zuzumuten, machte sie im Sinne der Mittagsruhe liebenswert. Ihn weniger.
Markos Hauptbeschäftigung bestand darin seine beiden pubertierenden Schwestern zu terrorisieren. Ein Fulltime-Job. Schon in der Früh musste die Zahnbürste der einen Schwester und die Haarbürste der anderen in die Müslischüssel getaucht werden, danach war er mit Sonnenöl-ins-Bikini-Höschen-Quetschen, Bikini-Oberteil-Aufreißen, Spiegel-mit-Lippenstift-Bemalen, Haarfön-als-Fender-an-die-Reling-Hängen und ähnlichen aufreibenden Tätigkeiten voll ausgelastet. Vor dem Landausflug freute er sich diebisch den Mädchen die Schuhe neben das Schlauchboot nachwerfen zu dürfen.
Eines Abends stieß er eine der frisch geschminkten und für einen Disco-Besuch fein herausgeputzten Schwestern von der Badeplattform ins Wasser. Jetzt reichte es dem Skipper, dessen richtiger Name hier aus Furcht vor rechtlichen Konsequenzen verschwiegen wird: Er packte den mit Schwimmflügeln ausgerüsteten Giftzwerg und schleuderte ihn in hohem Bogen über Bord. Seine Eltern erstarrten, die Schwestern übernahmen jubelnd den Vuvuzela-Part. Beim Abendessen flüsterte die Giftzwergmutter dem Skipper ein fast erotisches „Gratuliere, Captain Barbossa!“ ins Ohr.
An diesem Abend begann der eigentliche Urlaub.
Heute ist Markus Sozialberater, womit die Frage, die Sie bestimmt gerade stellen wollten, auch schon beantwortet ist: Ja, ich glaube noch immer an das Wunder Familientörn …
* Captain Hector Barbossa ist eine Figur aus dem Film Pirates of the Caribbean und erbitterter Gegenspieler des Haupthelden Jack Sparrow
** Immer in den Sommerferien-Monaten Juli und August ist die Kolumne „Abdrift“ dem „Wunder Familientörn“ gewidmet.