Reise in die Vergangenheit
Vor 40 Jahren holten die österreichischen Segler in Tallinn zwei Silbermedaillen. Jürgen Preusser besuchte das einstige olympische Segelrevier und fragte Wolfgang Mayrhofer, der damals mit einer Protestaktion für Aufsehen sorgte, nach seinen ganz persönlichen Erinnerungen
Ein Fetzerl von einem weißen Leintuch, mit Permanent Marker schwarz eingefärbt, war das Corpus Delicti. Das schmuggelte er unter seiner Team-Jacke verborgen an der Security vorbei bis zum Podest, auf dem die Siegerehrung stattfinden sollte. Mit Stecknadeln befestigte er die provisorische Trauerbinde an seinem Oberarm. Dann wurde Wolfgang Mayrhofer die Silbermedaille um den Hals gehängt.
Aber der Reihe nach: Einmarsch sowjetischer Truppen in Afghanistan 1979. Auf Betreiben von US-Präsidenten Jimmy Carter kommt es zum Boykott der Olympischen Spiele von Moskau 1980. Nur 81 Nationen nehmen daran teil – darunter Österreich. In der estnischen Hauptstadt Tallinn, dem Schauplatz der Segelbewerbe, ist vieles anders als im mehr als tausend Kilometer entfernten Moskau: Die meisten Esten fühlen sich nicht als Teil der ungeliebten UdSSR. Von Überwachungsstaat und KGB-Mief ist hier wenig bis gar nichts zu spüren.
Das Olympische Dorf im weitläufigen Kalevi Yachtclub, in dem die Segler damals untergebracht waren, ist heute ein eher mäßig ausgelastetes Seminarhotel. Olümpiakeskus (estnisch für Olympiazentrum) steht in großen Lettern auf dem Hauptgebäude. Nordisch kühl, aber modern, wie vieles in der 450.000-Einwohner-Stadt. Das historische Olympia-Symbol steht schief und einsam auf dem langen Steg entlang der schmalen Marina-Einfahrt. Von hier aus sieht man die Skyline Tallinns mit ihren drei auffälligen Kirchtürmen. Im Dunst sind zwei weitere Marinas auszumachen. Die größte liegt neben dem beeindruckenden Seefahrtmuseum, dessen Star der hundert Jahre alte Eisbrecher Suur Töll ist.
Aufgrund sowjetischer Fehlplanung war das 1935 eröffnete Museum ausgerechnet im Olympiajahr vernagelt. Die fünfköpfige Gruppe der österreichischen Segler kam mit der estnischen Hauptstadt aber ohnehin kaum in Berührung, mit Moskau noch viel weniger. Drei von ihnen – Hubert Raudaschl, Karl Ferstl (Starboot) und Wolfgang Mayrhofer (Finn) – wurden in Estland versilbert. Das Tornado-Duo Hubert Porkert und Hermann Kupfner erreichte den achtbaren siebenten Platz. Raudaschl hatte zwölf Jahre zuvor von den Spielen in Mexiko die erste von bis heute acht Segelmedaillen für Österreich mitgebracht. Ebenfalls Silber. Seither sind die Segler buchstäblich der Silberstreif am eher dunklen Horizont des österreichischen Sommersports.
Die Wurzeln der Invasion Afghanistans liegen in Moskau. Die meisten Esten wollen weder mit den dominierenden UdSSR-Behörden noch mit diesem Krieg etwas zu tun haben. Sie betrachten die Sowjets keineswegs als Befreier vom Nazi-Terror, sondern als weitere Belagerungsmacht. „Ich war und bin ein Gerechtigkeitsfanatiker“, sagt Wolfgang Mayrhofer vierzig Jahre nach den Boykottspielen von Moskau. „Ich hab lang überlegt, ob ich überhaupt starten soll. Doch einerseits war ich bei der HSNS (Anm.: Österreichische Heeressport- und Nahkampf-Schule), also Soldat, andererseits habe ich es einfach nicht übers Herz gebracht abzusagen. Zwölf Jahre Vorbereitung, mit Hängen und Würgen die Qualifikation geschafft. Und dann den Traum einfach aufgeben? Nein! Wer hätte das schon registriert?“
Außenseiter mit Ambition
Mayrhofer war damals 22 Jahre jung. Ein Idealist, wie heute noch, geprägt von christlichen Werten. „In der Weltrangliste hatte ich mein Platzerl so zwischen acht und zwanzig.“ Vor allem, weil er ein Leichtgewicht unter den schweren Jungs war und bei wenig Wind seine Stärken auszuspielen verstand. Das klappte auch in der ersten Wettfahrt bei Olympia perfekt – Tagessieg! „Ab dann waren die Bedingungen sehr wechselhaft und schwierig“, erinnert er sich. „Damit hab‘ ich offenbar besser als alle Favoriten umgehen können.“
Heute ist der gebürtige Klagenfurter, der als Kleinkind mit seiner Familie nach Wien übersiedelte, Professor an der Wiener Wirtschafts-Uni. Wahrscheinlich versteht er es deshalb, seinen größten sportlichen Erfolg so präzise zu analysieren: „Viele scheitern an der Besonderheit der olympischen Situation. Sie wollen alles anders machen als normalerweise. Ich hab‘ versucht, alles so zu machen wie immer.“ Den Ball flach halten, heißt das im Sprachgebrauch des 21. Jahrhunderts. „Als Solo-Segler bist du sowieso nicht der geborene Socializer. Daher kann dich auch keiner mit seiner Hysterie anstecken.“
Die Hierarchie im Team sei klar gewesen: „Raudaschl Nummer eins, Porkert Nummer zwei, dann lang nix und dann ich.“ Mayrhofers Back-up, Sparringpartner und persönlicher Betreuer war Herbert Houf, heute OeSV-Präsident, Teamcoach der Ungar Andras Gosztonyi. „Das war unsere Bubble – und die war nicht außergewöhnlich. Ich bin Olympia angegangen wie die Kieler Woche oder jede andere große Regatta.“
In der letzten Wettfahrt gelang Mayrhofer eine taktische Meisterleistung, auf die er heute noch stolz ist. „Vier Leute sind um zwei Medaillen gefahren. Der spätere Bronze-Gewinner Balaschow ist nach einem Frühstart nach links abgehaut, die anderen sind rechts geblieben, obwohl der Wind eindeutig links besser geworden ist. Für mich ein Dilemma. Aber ich hab mich entschlossen, im rechten Paket am weitesten links zu bleiben, um handeln zu können.“
Ein goldener Mittelweg, der dem späteren Uni-Professor Silber bescherte.