Die geheimnisvolle Insel Adois

Kinder sind an Bord eines Segelschiffs besonders anfällig für Missverständnisse und Fehlinterpretationen

Die geheimnisvolle Insel Adois

Erich ist ein Hypochonder. Da gibt es nichts zu beschönigen. Beim leisesten Windhauch kaut er vorbeugend Halswehtabletten. Klagt jemand an Bord über Kopfweh, schluckt Erich sicherheitshalber auch ein Pulverl. Sein bester Freund und Langzeit-Skipper Peter bringt es auf den Punkt: „Der glaubt, dass er in Hollywood Karriere macht, wenn er Filmtabletten lutscht.“ Ein klassisches Missverständnis.

Und damit sind wir beim Thema. „Papa, wie nennt man diesen Fisch, wenn er lebt?“ Daniels Vater Gregor hatte zum Abendessen einen Red Snapper bestellt. Wir mussten ein paar Minuten nachdenken, um dieses Missverständnis zu entschlüsseln: Der achtjährige Daniel hatte Dead Snapper verstanden.

Daniels gelegentliche Hörfehler wurden zu einer Art Legende auf unseren wunderbaren Familientörns: „Geh weg vom Ruder“, herrschte ihn der Papa an, weil der Bub ausgerechnet vor einer Starkwind-Wende wie wild am unbesetzten zweiten Steuerrad zu kurbeln begann. Daniel reagierte mit einer Frage: „Wieso? Hat er eine ansteckende Krankheit?“ Die Erwachsenen warfen einander verstörte Blicke zu: Hatte der Bub womöglich heimlich die Alkoholvorräte geplündert? Gregors älterer Sohn Thomas löste schließlich auch dieses Rätsel: „Nicht Bruder, du Kasperl! Sondern Ruder!“

Naja, Thomas braucht sich über seinen kleinen Bruder gar nicht lustig zu machen. Er wollte einst wissen, warum die Matrosen ausgerechnet beim Pinkeln so viele Geschichten erfinden. Thomas hatte zuvor statt Seemannsgarn Seemannsharn verstanden. Und als ihm sein Vater die Mondphasen erklären wollte, baute sich der Pubertierende eine eigenwillige Eselsbrücke: „Bei Halbmond ziehen die Mädchen ihr Bikini-Oberteil aus. Das nennt man dann Nippelzeit.“ Heute ist Thomas selber Skipper und kennt die Bedeutung des Wortes Nippzeit (geringer Tidenhub bei Halbmond) ganz genau. Er weiß auch, dass es sich bei der Springzeit um die Voll- und Neumondphasen handelt, also um das Gegenteil der Nippzeit.

Man darf also in der Springzeit nicht einfach bei voller Fahrt über die Reling ins offene Meer springen. Dieser Fehlinterpretation saß übrigens einst meine Tochter Lisa auf.

Selbige Lisa stellte eines schönen Tages im Ionischen Meer auch die Frage, wann wir endlich die Insel Adois erreichen würden. Dieser Einwurf hat mich ziemlich ins Grübeln gebracht. Ja, ich hab‘ die geheimnisvolle Insel sogar auf der Seekarte vergeblich gesucht. Das Rätsel war nicht leicht zu lösen: Zwanzig Minuten davor hatte ich an der Reling mit dem Fernglas in der Hand ein Selbstgespräch aus navigatorischen Gründen geführt. Und meine Tochter hatte mehr oder weniger zufällig zugehört: „Wo ist denn die verdammte Insel?“ Und ein paar Sekunden später: „Ah, do is!“
In Wahrheit ging es um die Insel Skorpios, die einst dem Milliardär Aristoteles Onassis gehörte. Seit diesem kleinen Missverständnis bekommt auf unseren Familientörns jede uns unbekannte Insel den Namen Adois. Besagter Lisa wurde von ihrem Bruder Manuel wiederum den Spitzname Bone Eater verpasst, obwohl das zarte Mädchen so gar nichts von einer Knochenfresserin hatte. Der Hintergrund: In einer vormals ruhigen kroatischen Bucht wurde an Bord lautstark der Madonna-Song La Isla Bonita gespielt. Manuel, der Spanisch heute als seine zweite Muttersprache bezeichnen darf, hörte jedoch Lisa Bone Eater.

Zurück zum notorischen Falschversteher Daniel: Nachdem er – offenbar aus Langeweile an einem Flautentag – beide Hälften eines Bounty-Kokosriegels im Alleingang aufgefressen hatte, wurde er von seinem älteren Bruder Thomas mit einem inflationär verwendeten, urtypisch österreichischen Schimpfwort bedacht. Ich will es der geschätzten Leserin, dem geschätzten Leser an dieser Stelle nicht in gedruckter Form zumuten. Doch eine halbe Stunde nach der Schimpferei um das Bounty stellte der kleine Daniel seiner Mama ganz leise die mystische Frage: „Mami, was ist eine Ohrschlucht?“

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