Grenzerfahrung
Bei einem Törn im Dodekanes, wo die europäische Kultur dem Orient am nächsten kommt, kann man sowohl landschaftlichen als auch geisteswissenschaftlichen Attraktionen folgen
Wir von der Gemeinde der Wind- und Wellenbewegten wissen: Der Horizont ist ein treuer Begleiter. Gelegentlich kommt er uns nah, meist wahrt er Distanz, manchmal verbirgt er sich in Nebel, Regen oder Dunst. Wesensgleich dem Schatten lässt er sich nicht fassen, und mit dem schwindenden Licht macht er sich wie die Schatten unsichtbar. Nicht erst seit Udo Lindenberg wissen wir, dass es hinterm Horizont weiter geht, ein neuer Tag beginnt, und mit ihm kommt ein neuer Horizont.
So ist das mit den Horizonten aus den Stoffen der Physik. Schön ist es, diesen hinterher zu segeln.
Wie aber ist es mit den Horizonten aus den Reichen hinter der Physik, den metaphysischen? Auch sie lassen sich nicht fassen. Aber vor uns herschieben, den Horizont des Verstandes über das Augenscheinliche und Sinnfällige hinausschieben, das können wir doch. Auf der Reise zu neuen Horizonten muss man nur ein paar Urteile und Überzeugungen über Bord werfen und sich bequemer Einrichtungsgegenstände im Gedankengebäude entledigen. Zudem hilft es, wenn man sich mit Neugierde im Herzen an Stätten begibt, an denen wertvolle Gedanken in die Welt entlassen wurden. Auch darum – nicht nur wegen der guten Winde, entzückenden Menschen und berückenden Landschaften – zieht es neugierig zweifelnde und kultursensible Gemüter immer wieder in griechische Gewässer. Nur Italien wäre eine vergleichbar ergiebige Destination. Leider hat das Schicksal dieses zweite Sehnsuchtsland der unruhigen Geister mit zu viel glatter Küste und viel zu wenigen Inseln ausgestattet.
Entschieden daher: Im Zweifel Kurs Südost.
Reizvolle Destination gibt es in griechischen Gewässern viele. Wer wie die alten Griechen den geographischen Horizont als Grenzkreis versteht und sich von Reisen an den Peripherien Entdeckungen verspricht, wird am Dodekanes viel Freude haben. Mit diesen Inseln wendet sich der Bogen europäischer Kultur von Süden nach Westen und kommt dem Orient am nächsten. Wie Gezeiten sind verschiedenste Kulturen über die Region geschwappt und haben gehaltvolle Sedimente hinterlassen. Die Lebensarten der Menschen haben sich mit den Zeitläuften fusioniert, nur die politischen Begehrlichkeiten leider nicht.
Ja, ich weiß, geschätzte Leserinnen und Leser, auch kulturaffine Reisende leben nicht von geistiger Nahrung allein und können von den Botschaften alter Steine ihren Durst nicht stillen. Das hohe Lied auf den griechischen Wein ist in diesem Blatt jedoch schon ausführlich gesungen worden, das Bier war in Gedanken eingeschlossen, das würzige Potpourri feststofflicher Nahrungsmittel im Spannungsfeld zwischen Taramosalata und Gyros auch. Da gibt’s nichts Neues, kann ich aus frischem Eindruck melden, und aus fast fünfzigjähriger Beobachtung der griechischen Küche kann ich prognostizieren: Da kommt auch nichts Neues, so lang wir leben.
Also wollen wir hier den landschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Attraktionen folgen. Als Ausgangspunkt der Reise bietet sich Kos an. Den Norden und Süden des Dodekanes hat die Insel ausgewogen zu beiden Seiten, im Sommer ist sie per Direktflug bequem erreichbar. Die Überfahrt von den türkischen Charterstützpunkten Bodrum oder Marmaris in den Dodekanes wäre auch gut möglich, ist allerdings mit dem Ungemach entwürdigender Grenzübertrittsrituale belastet
Wer nicht mehr als eine Woche Zeit investieren kann, wird sich vorzugsweise nach Süden, also Rhodos wenden. Von der Antike bis heute bildet diese größte Insel des Dodekanes auch seinen kulturellen Schwerpunkt. Die kleine Reise von Kos nach Rhodos und retour sei mit drei Skizzen illustriert.
1. Skizze: Im Klosterschatten
Die Seefahrt ist ein ungewisses Gewerbe, früher war sie es viel mehr als heute. Da wundert es nicht, dass den Seefahrern alter Zeiten ein harmonisches Verhältnis mit den höheren Mächten wichtig war. Auf Symi, der östlichsten Insel des Dodekanes, schlägt sich dieses Bedürfnis auch in Zahlen nieder: 2600 Einwohner, 364 Kirchen und Kapellen. Damit ist Symis Bevölkerung mit spirituellen Orten ähnlich gut versorgt wie die des Vatikans.
Das spektakulärste Bauwerk zur Ehre des Herrn ist das Kloster Panormitis. Für uns heutige Seefahrer wurde es idealtypisch ans Ufer einer weiten, rundum gut geschützten Bucht gebaut und leuchtet nun, da frisch gestrichen und des Nachts illuminiert, prachtvoll übers Wasser.
Am frühen Morgen, vor der Ankunft der ersten Ausflugs- und Pilgerschiffe, liegt feuchte Ruhe über dem geweihten Ort. Im Schatten der himmelragenden Mauern bewegen sich schwarz gekleidete Gestalten, und im arkadengesäumten Hof vor der Kirche beginnt das Tagwerk der Frauen mit Besen und Bügeleisen.
Die Kirche ist dem Erzengel Michael geweiht, Schutzpatron der Krieger und Seefahrer und auch Fürst des Lichts, das durch kleine, bunte Fenster weich und lastend in einen wundersamen Raum fließt.