Entlein und Schwan
Linekin Bay an der Küste von Maine im Nordosten der USA. Einquartiert im Smuggler’s Cove Inn, verbringe ich zwei Tage mit – Internet sei Dank – Schreib- und Denkarbeit. Zwischendurch spaziere ich die Atlantikküste entlang und bestaune beeindruckende Häuser, am Morgen paddle ich mit dem Kajak an zahlreichen Hummerkörben vorbei. Nach getaner Arbeit Chillout im Liegestuhl mit Blick auf die Bucht. In der Abenddämmerung sehe ich eine große und, gemessen an klassischen Formen, hässlich-unproportionierte grau-braune Motoryacht in die Bucht einlaufen. Geschätzte 160 Fuß, vorne ein kleiner Aufbau mit wenigen Bullaugen, hinten langgezogen-flach. Gut hörbar fällt mitten in der Bucht der Anker.
Der österreichische Provinzler regt sich in mir: nicht billig und doch so geschmacklos, wie kann man sich so ein Boot zulegen, geht das nicht stilvoller. Mitten in der gedanklichen Suderei taucht eine zweite Motoryacht am Eingang der Bucht auf: um die 120 Fuß, drei Decksebenen, klassische Linien in Weiß. Wenn schon Motoryacht, dann so ein schöner Schwan, ruft meine innere Stimme. Dann beobachte ich, wie der Schwan zielsicher auf das hässlichen Entlein zufährt und gekonnt längsseits geht, und bin erst mal perplex. Nach einigem Nachdenken fällt der Groschen mit einer für meinen schlichten Geist glaubwürdigen Hypothese: Das hässliche Entlein ist das Versorgungsboot. Es bereitet den Weg, erkundet Ankergründe und signalisiert Schwan das ‚all clear‘, bunkert Diesel – Erkundungsmission für den US-Präsident? – für eine Langfahrt nach Grönland etc. Ich versuche mit Hilfe des AIS (Automatic Identification System) mehr Information zu bekommen. Webseiten wie www.marinetraffic.com geben einen guten Überblick über Position der Schiffe, die dieses System benutzen. Leider ist hier nichts zu holen – und am nächsten Morgen sind Entlein und Schwan wieder weg.
Die Moral von der Geschicht’? Erstens: Zweimal relativ klein ist ziemlich groß. Und zweitens: Der kleinbürgerliche Denkrahmen passt nicht zu den Spielzeugen der Reichen und Schönen – aber damit kann ich gut leben.